Kälte

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Daraufhin steckt sie den Schlüssel in die Tür, öffnet sie und ist im Dunkeln des Hausflures verschwunden.

Er schaut auf die Uhr. Sie zeigt 9:43Uhr an. Er braucht nur fünf Minuten zu fahren und weitere fünf Minuten zu gehen, um an dem Block des Mädchens zu sein.
Ihre Viertel sind so nah und doch so unterschiedlich.
Denn während sie in einer heruntergekommenen Bude lebt, wohnt er in einem Haus mit Garten und gepflegtem Äußeren.
Bei diesem Gedanken tut das Mädchen ihm leid.

Er steigt aus der Bahn aus und folgt dem Menschenfluss über die Straße. Ihm ist kalt, doch nicht so kalt wie gestern Nacht, also lässt er die Jacke offen.

Er biegt rechts ab, folgt der Straße, dann wieder links.
"Warum machst du das?"  Ihre Worte hallen in seinem Kopf wieder.
Ich weiß es selbst nicht. Irgendetwas an diesem komplett durchgeknallten Geschöpf zieht mich an.

Es ist 9.50Uhr und er beschließt sich noch einen Kaffee zu kaufen - nicht, weil er ihn gerne trinkt, sondern einfach um etwas Warmes in den Händen zu halten.

Mit dem Kaffee geht er seinen Weg weiter und aus der Ferne erblickt er schon die Tür, in die das Mädchen gestern verschwunden ist. Als er näher kommt bleibt er stehen. Das Mädchen sitzt zusammengekauert vor dem Haus.

Schnell läuft er zu ihr. Als er sie erreicht stoppt er und schaut sie an. Sie schaut zurück. Beide sagen nichts.
Das Mädchen zittert schrecklich und die Wangen sind rot von der Kälte. Am Auge sieht er einen -nicht allzu großen, doch nicht übersehbaren- blauen Fleck.

Als hätte sie es bemerkt, dreht sie ihr Gesicht weg, so dass er den Fleck nicht mehr sehen kann.

"Bist du wenigstens pünktlich?", unterbricht sie dann die Stille.
Lächelnd schaut er auf die Uhr. "Zwei Minuten hab ich noch."
Sie schließt die Augen. "Ich hoffe das lohnt sich." Langsam steht sie auf und hält dabei ihre Arme vor den Körper.

Er gibt ihr den Kaffee, damit er ihre Hände wärmt und ohne zu zögern nimmt sie ihn. Kein Danke, keine Erklärung, nichts. Aber er erwartet auch nichts anderes.

"Wohin möchtest du gehen?", fragt er.
Sie schaut ihn forschend an. "Ich dachte du hättest dir schon was ausgedacht?"
Er schüttelt den Kopf.
"Ich wollte es, hab es versucht, wirklich. Nur: was macht man mit einem Mädchen, von dem man nichts weiß?"
Verlegen schiebt er die Füße auf dem Boden hin und her.

"Lass uns irgendwo hingehen, wo es warm ist, in ein Café oder so.", schlägt er vor. "Dir muss doch total kalt sein."
Sie schüttelt schnell den Kopf. Auf ein mal liegt Angst in ihrem Blick. "Nein, ich möchte nicht unter Menschen."

Verwundert schaut er sie an. Dann fällt ihm der blaue Fleck wieder auf und er versteht.

"Komm einfach mit mir mit.", sagt sie dann und geht die Straße entlang. Er folgt ihr.

Dieses mal gehen sie entgegengesetzt der Richtung, in der die Brücke liegt und kommen an einen Fluss.
Sie setzen sich auf eine Bank.

Zuerst schweigen sie. Dann durchbricht er sie Stille: "Wer war das?"
"Was meinst du?", fragt sie.
Vorsichtig streicht er über den blauen Fleck an ihrem Auge. Sie schreckt zurück.
"Ach das... ich hab mich gestoßen."
Ungläubig sieht er ihr in die Augen.
"Und du denkst, dass ich dir das abkaufe?"
Sie schweigt.
"Und wieso saßt du vor der Haustür?", hakt er weiter nach.
"Fragst du immer so viel?", entgegnet sie genervt.
"Wenn ich Fragen habe, ja."

"Das war mein Vater.", antwortet sie nach einer Weile leise.
"Dein Vater?"
"Ja. Er fand es nicht gut, dass ich so spät nach Hause kam."
"Und deshalb hat er dich geschlagen?", fragt er fast wütend.
"Er war noch gnädig.", sagt sie und zuckt mit den Schultern. Ein verbittertes Lachen entfährt ihr.

Dann bemerkt er, wie sie vor Kälte zittert und hängt ihr seine Jacke über.

"Danke.", sagt sie und lächelt.

"Mach das öfter.", sagt er und grinst sie an.
"Was?", fragt sie.
"Lächeln. Es sieht schön aus, wenn du das tust."

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