Die Brücke

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Der Junge wartet auf seinen Bus. Er zieht die Jacke zu und reibt sich die Arme, es ist Februar und das Wetter ist noch kalt. Die Haltestelle befindet sich auf einer Brücke, die über Bahnschienen verläuft. Kaum ein Auto kommt vorbei, denn es ist schon spät.

Im Dunkeln erkennt er ein Mädchen, das an dem Geländer steht. Sie schaut in die Ferne, ihre langen Haare sind zerzaust durch den Wind.

Ungeduldig wartet er weiter. Erst in einer halben Stunde soll der Bus kommen. Er schaut wieder zu dem Mädchen. Warum steht sie da? , fragt er sich.

Er lehnt seinen Kopf nach hinten und verschränkt die Arme, hofft, dass dies ihn wärmer hält. Er schließt die Augen und zählt die Sekunden. Doch bei Zwanzig hört er auf.
Das ist doch bescheuert, denkt er und schaut in Richtung des Mädchens.

Sie hat sich mit den Armen auf das Geländer gestemmt und hebt ein Bein herüber. Der Junge richtet sich auf, um besser sehen zu können.

"Hey!", ruft er. "Was machst du da?" Doch sie reagiert nicht. Sie hebt das andere Bein herüber und steht nun auf der anderen Seite des Geländers.

Er steht auf doch bewegt sich nicht. Was zur Hölle hat sie vor?

In der Ferne hört er das Rumpeln von Bahnrädern auf den Schienen. Er setzt langsam einen Fuß nach dem anderen. Erst nähert er sich ihr vorsichtig, dann rennt er. In der Ferne sieht er Lichter näher kommen.

Das Mädchen schaut auf, sie steht nur da und schaut ihn an.

Als er sie erreicht hat fasst er an ihre Schultern. Er schaut ihr direkt ins Gesicht. "Was machst du da?", fragt er.

"Lass mich los.", erwidert sie mit einer Stimme, die vor Hoffnungslosigkeit trieft.
"Willst du etwa springen?" Aus Verzweiflung schreit er sie fast an.
Sie antwortet nicht, sie schaut nur weg.

Die Bahn rollt näher, das Rumpeln wird lauter.
"Lass mich, bitte...", flüstert sie. In ihren Augen sieht er Tränen aufsteigen.
Dann spürt er, wie sie langsam nach hinten fällt, wie ihre Hände das Geländer langsam loslassen.

Er schaut sie an, fassungslos.
Der Zug ist kurz vor der Brücke und ihre Hände haben den Griff gelöst.

Sie lehnt sich nach hinten, doch reflexartig hält er sie fest. Er umarmt ihren Oberkörper und hält sie unter den Armen.
Langsam rutschen ihre Beine weg und er versucht sie zu halten.

"Lass mich los, verdammt!", schreit sie doch er denkt nicht daran. Er umklammert sie noch fester und hebt sie etwas hoch.

Die Bahn rollt quietschend unter ihnen vorbei. Dann ist sie weg.

Der Junge verharrt in der Position.
"Nun lass mich endlich los!", schreit sie wieder und hämmert auf seine Schultern. Doch er hatte sie schon wieder auf die Brücke gehoben.

"Es ist kein Zug mehr da, der dich mitnehmen kann." Sagt er ruhig.
Ihr Kopf lehnt auf seinen Schultern. Ihr Körper bebt und er kann sie schluchzen hören.

"Komm rüber.", sagt er nach einiger Zeit mit dem Blick zur Haltestelle. Sie reagiert nicht. "Nun komm schon, dir muss doch kalt sein."

Sie schaut hoch, Tränen laufen über ihre Wangen. "Warum?", wispert sie.
"Ich möchte dein schönes Gesicht sehen.", sagt er.

Wie weit darfst du gehen?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt