"Jeder trägt sein Päckchen, verstehst du? Bitte glaub nicht, du seist allein. Du kannst die Päckchen vielleicht nicht ablegen, aber du kannst dir helfen lassen, sie zu tragen."
Sie bohrt mit ihren Schuhspitzen Löcher in die vom Restschnee matschige Erde. Es ist nun Ende Februar, die Temperaturen werden milder.
"Nein, das wäre egoistisch.", sagt sie dann und atmet schwer aus.
"Warum das?", fragt er.
"Man kann von niemandem erwarten, dass er einem bei seinen eigenen Problemen hilft. So wie du sagst, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und eigene Probleme heißen nicht umsonst EIGENE Probleme, verstehst du?", mit leerem Blick schaut sie ihn an und irgendetwas verursacht eine Gänsehaut bei ihm.
"Nein, das verstehe ich nicht. Wenn jemand bereit ist einem zu helfen, sollte man diese Hilfe auch annehmen."
Er steht auf und hält ihr seine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.
Zögernd hebt sie ihre und legt sie in seine. Ihre Hand ist ganz kalt und er bemerkt, dass es zu ihrem Hautton passt.
Würde sie sich ohne Kleider in den Schnee legen, könnte man sie glatt übersehen. Man könnte meinen, sie wäre ein Teil von ihm.
Diese Überlegung bringt ihn zum lächeln, denn die Metapher passt zu perfekt auf die Person vor ihm, die Person, die er in Wahrheit überhaupt nicht einschätzen kann. Kalt und still - wie Schnee.Als sie aufgestanden ist löst sie ihre Hand, doch Jonathan hält sie fest umklammert. Ein flüchtiger Blick huscht von ihren Augen aus über sein Gesicht, das zum See gewandt ist, dann festigt sich ihr Griff wieder und ihre andere Hand findet ihren Weg in die Jackentasche. Seine Hand ist angenehm warm.
Ohne ein Wort zu sagen zieht er sie mit sich den Abhang hinunter und ohne ein Wort zu sagen folgt sie ihm.
Es gibt keinen befestigten Weg, sie kämpfen sich durch gefrorenes Gras und knirschenden Schnee.
Sie bleiben eine Fußlänge vom Seeufer entfernt stehen und schauen stur auf das andere Ufer. Der Wind lässt die Haare des Mädchens in alle Richtungen fliegen, doch sie macht keine Anstalten, es wieder in die richtige Position zu legen.
Sie bemerkt, dass sie ihre Hand immer noch in seiner hält und lässt sie fast erschrocken los. Diesmal lässt auch seine Hand nach. Er schaut zu ihr hinunter.
"Du bist kein normales Mädchen, oder?"
"Wie meinst du das?", fragt sie, doch es klingt keine Verwunderung über die Frage in der Stimme mit, als hätte sie sie schon hundertmal beantworten müssen und würde nun auf eine andere Bedeutung der Frage hoffen.
"Du schminkst dich nicht, achtest nicht auf dein Aussehen - was bei Gott nicht heißen soll, dass du hässlich bist oder unhygienisch - ganz im Gegenteil. Ich möchte nur sagen, dass ich aus meiner Schulzeit größtenteils nur Mädchen kenne, die immer hinterher sind allen zu gefallen. Und du bist eben, wie du bist. Es sollte mehr solcher Menschen geben."
"Tja... ist halt so.", sagt sie. Bei anderen Menschen hätte er diese Aussage negativ aufgefasst und Überheblichkeit reininterpretiert. Doch bei ihr weiß er, dass es Unsicherheit ist.
"Du könntest auch gerne mal etwas Dankbarkeit zeigen.", lacht er. Er hatte mit keiner anderen Antwort gerechnet.
"Dafür, dass ich dich gut behandle, dir meine Hilfe anbiete und ehrlich zu dir bin."
Sie antwortet nicht.
"Es stört dich, dass ich etwas Gutes an dir gefunden habe, nicht wahr?", fragt er.
"Nein. Es stört mich, dass du behauptest mich zu kennen.", knurrt sie.
"Das tue ich nicht. Ich habe nur etwas festgestellt. Etwas Gutes. Und das stört dich. Ich bin immer noch dabei herauszufinden, wieso."
"Viel Glück dabei.", sagt sie verbittert, dreht sich um und stapft den Berg hoch.
"Warte, wo willst du hin?", ruft er und stolpert ihr hinterher.
"Ich muss nach Hause."
"Deines Vaters wegen?", fragt er, als er sie aufgeholt hat.
Abrupt bleibt sie stehen und ihre Augen sind eiskalt als sie direkt in seine schauen: "Ja. Und jetzt erwähne ihn nicht mehr."
Wortlos stapft sie weiter. Und er stolpert hinterher.
Sie kommen am Auto an und setzen sich hinein. Er stellt die Klimaanlage auf die wärmste Stufe und zündet den Motor.
Die Lichter erhellen die Straße, nur noch wenige Strahlen der Sonne kämpfen sich über den Horizont, doch auch sie verschwinden bald.
Es ist still im Auto, bis sie wieder die trostlosen Einfamilienhäuser erreicht haben.
"Du bist sauer, stimmt's?", fragt er und versucht dabei nicht wie ein kleiner Junge zu klingen.
Keine Antwort.
"Also ja.", fügt er hinzu und trommelt nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad.
"Ist es wegen mir oder wegen deines Vaters?", hakt er vorsichtig nach.
Keine Antwort.
"Warum auch immer, das wollte ich nicht.", entschuldigt er sich.Bis sie vor ihrer Haustür ankommen erfüllt Stille den Wagen.
"Sehen wir uns morgen?", fragt sie. Sein Blick wandert zu ihr und seine Augen sind geweitet vor Verwunderung über diese Frage."K...klar gerne.", sagt er.
"Gut.", antwortet sie schwach, öffnet die Tür und steigt aus dem Wagen.
"Es ist nicht deine Schuld.", ruft sie hinterher, dann knallt sie die Tür zu.-------------------------------------
Ich bin nicht so super zufrieden mit diesem Kapitel, aber hoffe dennoch, es gefällt euch. :)
Ich wollte mich nur ein mal bedanken, ich merke, dass die Geschichte bei vielen gut ankommt und das macht mich überglücklich. Eure lieben Kommentare und die Freude darauf, dass die Geschichte fortgeführt wird bauen mich total auf und motivieren!Ich danke euch auch für die lieben Gespräche, die schon zustande gekommen sind. Ihr seid toll, wollt ich nur mal sagen. Und jetzt genug geschleimt und 'nen schönen Abend noch. :D
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Wie weit darfst du gehen?
NouvellesFragen und Antworten über Leben und Tod gibt es massenhaft. Doch was passiert, wenn sich zwei Menschen, die zwei komplett unterschiedliche Meinungen darüber haben, sich genau darüber unterhalten? Eine Kurzgeschichte über Trauer und Freude, Liebe und...