Keine Spur

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Er sieht sie noch schwach lächeln bevor sie ihre Augen schließt und er es ihr gleichtut.

Am nächsten Morgen wacht er allein in seinem Bett auf. Keine Spur von dem Mädchen, selbst ihre Sachen liegen nicht mehr in seinem Zimmer.

Langsam setzt er sich auf, streckt sich ein mal bevor er aufsteht und die Treppe hinunter geht um zu schauen, ob sie sich unten aufhält.

Doch auch im Wohnzimmer oder auf der Terrasse ist sie nicht zu finden.
Ich weiß ja, wo sie wohnt, denkt er und macht sich erst ein mal Frühstück.

Danach geht er die Treppe hoch, um sich anzuziehen; er möchte gleich zu ihr fahren.
Doch dieser Plan wird von einem gelben Umschlag, den er auf seinem Schreibtisch findet, durchkreuzt.

"An Dich" steht in großen, geschweiften Buchstaben darauf.

Er nimmt ihn in seine Hände doch traut sich nicht, ihn zu öffnen. Ein mulmiges Gefühl erfüllt ihn.

Er setzt sich auf sein Bett und für die nächsten fünf Minuten starrt er nur stur auf den Umschlag in seiner Hand.
Dann überwindet er sich und öffnet ihn, darin liegt ein gefaltetes Blatt, das er heraus nimmt und entfaltet.

Es ist ein Brief, in sauberer, mädchenhafter Handschrift geschrieben, der an einigen kreisrunden Stellen gewellt ist, als wären Regentropfen heraufgefallen.
Über die erste Zeile ist ein "Hey Jonathan, ich hoffe du hast gut geschlafen" gequetscht, über das er leicht lächeln muss.

Doch die folgenden Zeilen lassen seine Mundwinkel wieder nach unten fallen.

"Es tut mir leid, dass ich einfach so abhaue ohne was zu sagen, aber ich wollte es kurz und schmerzlos halten.
Sobald du das hier liest brauchst du nicht mehr nach mir zu suchen, denn ich werde nicht mehr unter den Lebenden sein. Ich möchte nicht, dass du dir dafür irgendeine Schuld zu schiebst, denn es war für mich klar, dass es passieren würde. Du hättest mich durch nichts abhalten können."

Ihm stockt der Atem und er kann nicht glauben, was er gerade gelesen hat.
Das ist bestimmt nur ein Scherz, denkt er. Das kann sie nicht wirklich ernst meinen.

"Es tut mir wirklich leid, dich einfach so sitzen zu lassen, doch sei lieber froh darüber. Ich habe dich zu gern gewonnen dafür, als dass ich verantworten möchte, dass du mich zu sehr kennenlernst. Auch wenn ich dich zum Anfang gehasst habe, dafür, dass du mich so sehr an Tim erinnerst. Ich wollte mich nicht auf dich einlassen, da ich den Schmerz nicht ertragen konnte, der mich erfüllte, sobald ich in deinem Gesicht nur ihn erkannte.

Jedes Mal, wenn ich sauer war, war es nicht wegen dir. Ich war sauer auf mich, sauer darauf, dass ich dir keine Chance geben konnte. Doch diese hättest du verdient gehabt, denn du hast mich nie enttäuscht. Sogar meinen kleinen "Test" hast du bestanden, als ich keinen Treffpunkt ausmachte. Ich wollte sehen, wie du dich verhältst und eine bessere Reaktion als deine, dass du einfach blind losfährst, hätte ich nicht erwarten können.

Es war eine schöne, wenn auch kurze Zeit. Ich bin dir so dankbar für all die Hoffnung und die Herzlichkeit, die du mir gegeben hast - doch auch dies hat mir keinen Mut auf Besserung gegeben.

Ich hoffe du siehst, das Problem liegt einzig und allein bei mir. Ich bin zerstört worden und es lag nicht in deiner Kraft oder der einer anderen Person mich wieder aufzubauen.

Weißt du, als wir die Sternschnuppen gesehen haben, da habe ich mir gewünscht, dass du glücklich wirst. Und das wärst du mit mir nicht geworden. Ich wollte dich nicht an eine depressive Person voller Selbsthass und Kummer binden, die in einen toten Jungen verliebt ist. Du hättest nur deinen Optimismus verloren, ich hätte dich vermutlich mit reingezogen.

Du sagtest du möchtest, dass ich glücklich werde und ich sagte, dass es so sein wird. Und das stimmt - heute ist der Tag, an dem ich endlich wieder Glück verspüre. Ich werde frei sein, vor allem frei von der Schuld, Tim fallen gelassen zu haben. Heute werde ich diese Schuld begleichen und tun, was ich schon so lange hätte tun sollen. Ich werde ihn wieder sehen und allein das reicht mir als Grund von dieser verdammten Brücke hinaus aus dem Leben und hinein in mein Glück zu springen.

Mir bleibt nichts mehr zu sagen, Jonathan. Ich verlange nicht, dass du mich verstehst. Ich verlange nichts von dir, das stünde mir nicht zu.

Bitte trauer mir nicht nach, dazu gibt es keinen Grund. Ich werde, wie viele sagen, an einen besseren Ort gehen. Doch auch da werde ich dich nicht vergessen.
Pass auf dich auf, ich versuche mein Bestes von da oben über dich zu wachen.

Deine Merle."

Fassungslos schaut er die Zeilen, die er gelesen hatte und von denen einige durch seine Tränen verwischt sind, an. Immer wieder wiederholt er einzelne Sätze, immer wieder schüttelt er seinen Kopf, immer wieder flüstert er "Das kann nicht sein...".

Nach einer gefühlten Ewigkeit schmeißt er den Brief auf den Boden, greift sich in die Haare und zieht seinen Kopf an die Beine.

Er fühlt sich als müsse er seinen Körper zusammenhalten, es fühlt sich an als würde ihn etwas zerreißen. Er kauert sich auf dem Bett zusammen und weint wie ein kleines Kind. Er brüllt und schreit. Eine große Wut breitet sich in ihm aus und er schlägt gegen die Wand über ihm. Ein mal - zwei mal - drei mal; so oft bis ein Bild von der Wand fällt und der Rahmen klirrend auf dem Boden in Scherben zerbricht.

Er versucht sich zu beruhigen und schaukelt hin und her.
Die unfassbare Wut beginnt sich in eine unendliche Leere in seinem Körper zu verwandeln.

Bald liegt er nur noch regungslos da und fühlt sich taub, fast wie tot. Er vergräbt sein Gesicht in seinem Kissen, bevor er ein letztes Mal ein "Das kann einfach nicht sein" schluchtzt.

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Sorry Leute, für dieses tragische Kapitel... es würde mich brennend interessieren, wie euch diese Wandlung der Handlung gefällt und wie sie auf euch wirkt.

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