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»Wenn die Welt dich nicht hätte«, sagte der Mann mit dem grausträhnigen Haar und den grünen Augen zu Harry.
Harry schüttelte den Kopf. »Es mag auf alle so wirken, aber ich habe nie etwas wirklich Nennenswertes, zu Ehrendes getan, Remus.« Doch nicht einmal Remus Lupin, der nur wenige Schritte vor Harry stand, verstand das. Sie standen am Ufer des Großen Sees. Es war mitten in der Nacht. Das Wasser war wie eine riesige, glatte, schwarze Fläche. Es hätte auch ein Loch sein können. Harry wusste, dass, hätte er sich umgedreht, hätte er Hogwarts leuchtende Türme und Fenster erblickt, aber er drehte sich nicht um. Er wandte den Blick nicht von Remus Lupin ab. Dieser lächelte Harry verständnisvoll an.
»Du hast Voldemort umgebracht.«
»Ja, aber nur weil meine Mutter mich geliebt hat. Das war ja nicht meine Leistung!«
»Lily hat dich vielleicht mit einem Schutz versehen, aber du bist derjenige, der das genutzt hat! Rede dir nicht ein, dass du weniger bist, als du bist. Ich kann dir auch nochmals Dumbledores letzte Worte an mich und Kingsley wiederholen:›Harry ist unsere größte Hoffnung. Vertraut ihm!‹«
»Ja, aber jetzt... Voldemort ist tot. Dumbledore hatte Recht, aber nur, weil er gewusst hat, dass ich von meiner Mutter geschützt worden bin.«
»Harry, tut mir leid, aber bist du wirklich so blind? Bist du so bescheiden, dass du schon nicht mehr einsiehst, dass du ein Held bist?«
»Nein, Remus! Ich habe Menschen getötet!«
»Ja, Todesser! Und Voldemort! Du hast den Feind getötet und das war genau das, was wir wollten!«
»Ja, ich habe Todesser getötet, und auch Voldemort. Aber siehst du es nicht? Ich habe nicht nur sie getötet. Ich habe noch viel mehr Menschen umgebracht! Ich habe Fred getötet! Und Colin Creevey! Und Mad-Eye, Sirius, Tonks, Tonks' Dad - Ted, Snape, Cedric, Dumbledore. Ich habe Dobby und Hedwig getötet. Ich habe Mum und Dad getötet. Ich habe dich getötet!« Harry hatte zum ersten Mal seit Monaten wirklich ausgesprochen, was er dachte. Lupins Blick war erst entsetzt, dann wütend. Er kam einen Schritt auf Harry zu und durchbohrte ihn mit seinem zornigen Blick.
»Nein, Harry, nein!«, donnerte Lupin, »Du hast diese Menschen nicht getötet! Sie haben sich dafür entschieden, zu sterben! Sie haben sich für dich entschieden! Du musst endlich die Augen öffnen! Harry, du bist mal ganz abgesehen von deinen herausragenden Taten ein überaus talentierter Zauberer.«, die Wut in seiner Stimme wich Mitleid, »Du hast wunderbare Freunde, die deine neue Familie sind. Natürlich ersetzen sie nicht deine Eltern. Aber sie sind ein Trost und sie würden alles für dich machen. Weil sie wissen, dass du ein wunderbarer Mensch bist. Ich weiß es.« Eine einzelne Träne rann über Harrys Wange bei Lupins Worten. Er wusste, dass der kluge Mann die Wahrheit gesagt hatte, er hatte es gespürt. Und trotzdem, er hielt sich noch lange nicht für einen Held. Lupin erkannte Harrys Einsicht und trat einen weiteren Schritt auf ihn zu - diesmal aus Mitgefühl. Er streckte eine Hand aus und wollte sie Harry auf die Schulter legen.
In dem Moment stieß der Vollmond aus den Wolken. Lupin warf einen wissenden Blick in den Himmel, als er auch schon begann, unkontrolliert zu zucken. Harry wollte etwas tun, wusste aber, dass es nutzlos war. Plötzlich hörte das Zucken auf. Vor ihm stand Remus Lupin. Remus Lupin in seiner menschlichen Gestalt. Er hatte sich nicht verwandelt. Harry wusste nicht, welcher ihrer beiden Blicke erstaunter war. Doch in diesem Augenblick trat Antonin Dolohow hinter Lupin aus der Dunkelheit hervor. Harry wusste, was passieren würde. Dolohow zückte seinen Zauberstab und richtete ihn genau auf Lupin. Harry wollte ihn aufhalten, doch der grüne Lichtblitz schoss schon aus seinem Zauberstab.
»NEIN!«, schrie Harry.

Harry erwachte schreiend und schwer atmend aus seinem Albtraum.
»Harry? Harry, wieso schreist du?«, fragte Neville entsetzt, der zusammen mit Ron und den beiden anderen Zimmerbewohnern gerade erschrocken aus den Betten gesprungen war. Bis eben hatten sie wohl noch geschlafen.
Doch Harry konnte sich nicht auf seine Freunde konzentrieren. Der Traum hatte ihn geschockt. Seine Albträume in letzter Zeit wiederholten sich. Er hatte schon oft den Traum geträumt, in dem er mit Lupin am Großen See gestanden hatte. Jedes Mal hatten sie übers Harrys Schuld und Heldentum geredet, aber bisher hatte Lupin immer - bevor Harry all die Todesfälle hatte aufzählen können, an denen er Schuld war - es aufgegeben, mit Harry darüber zu diskutieren. Und es hatte nie einen Vollmond gegeben, immer nur Dolohow, der Lupin umbrachte. Es schockte Harry noch mehr, dass der Traum sich verändert hatte. Daran, dass die Träume sich wiederholten, hatte Harry sich gewöhnt. Auch wenn es kein großer Trost war, wusste Harry, wie die Träume verliefen. Sie waren immer gleich. Bis jetzt. Das war äußerst beunruhigend. Was ist nur los mit mir?
»Harry, wieder schlecht geträumt?«, fragte Ron. Er war der einzige, der nicht vollkommen geschockt aussah, sondern verständnisvoll. Harry nickte.
»Schon gut«, sagte er und legte sich wieder hin. Er schloss die Augen und versuchte seine Atmung so gut wie möglich zu verregelmäßigen, bis er hörte, dass auch die anderen wieder in ihren Betten lagen. Dann, endlich, konnte er die Augen wieder öffnen. Das Zimmer war wieder nächtlich schwarz. Als Harry nach einer Weile stillen Daliegens verstand, dass er den Schlaf brauchte, versuchte er wieder einzuschlafen. Es ging besser und schneller, als er erwartet hatte.

Als Harry durch den hereinfallenden Sonnenschein aufwachte, lag keiner der anderen mehr in ihren Betten. Er war wunderbar wach und gut gelaunt. Motiviert schwang er die Beine über den Bettrand und stand auf. Eilig zog er sich an und ging in den Gemeinschaftsraum. Einige Zweitklässler saßen auf den Sesseln, aber sonst war der Raum leer. Harry verließ den Gryffindor-Turm durch das Porträt der fetten Dame.
Als er in der großen Halle ankam, sah er sofort Ron und Hermine am Tisch der Gryffindors. Er lief zu ihnen und ließ sich gegenüber von ihnen fallen.
»Guten Morgen!«, sagte er fröhlich.
»Harry!«, sagte Hermine erfreut. »Du scheinst ja wunderbar geschlafen zu haben. Vor allem wunderbar lange«, grinste sie. Harry sah ihr ihre ehrliche Freude und Erleichterung eindeutig an.
»Wie man's nimmt«, antwortete Seamus, der neben Harry saß, auf Hermines Frage.
»Was soll das heißen?«, fragte diese sofort besorgt.
»Albtraum«, erklärte Harry matt. Hermines Miene wurde noch besorgter.
»Aber schon gut«, versicherte Harry ihr, »Danach habe ich bis jetzt gut geschlafen! Und jetzt bin ich wach und habe gute Laune! Vergiss das, Hermine!« Harry sprach aus ehrlicher Überzeugung. Sie sah noch ein wenig unsicher aus, lächelte aber schon wieder.
»Wenn du meinst, Harry«, sagte sie und Harry hoffte, dass das die letzten Worte zu diesem Thema waren. Er wollte sich seine Laune nicht vermiesen lassen.
In diesem Moment kamen die Posteulen und warfen Briefe und Päckchen auf den Tischen vor den Schülern ab.
»Mal ehrlich«, sagte Harry belustigt, »Wer bekommt schon am ersten Tag Post von seinen Eltern?«
»Anscheinend unser allerliebster Malfoy«, grinste Ron. »Er vermisst Mami wahrscheinlich zu sehr!« Lachend beobachteten die Drei, wie Malfoy einen Brief öffnete, ihn überflog, die Augen verdrehte und mit einer vor ihm liegenden Feder etwas auf die Rückseite des Pergaments schrieb und den Brief der Eule gab.
Harrys Belustigung wich Verwirrung als sich vor ihm ein großer Waldkauz niederließ, der einen Brief in den Krallen hielt.
»Und auch unser allerliebster Harry bekommt Post«, kicherte Hermine.
»Keine Ahnung von wem«, sagte Harry ehrlich. Wer hätte ihm auch schreiben sollen? Höchstens das Ministerium, aber dem hatte Professor McGonagall ausdrücklich untersagt Harry ›während der Beendung seiner Schulausbildung weiter zu belästigen‹.
Harry nahm den Brief an sich und riss den Umschlag auf. Babyblaues, dünnes Pergament leuchtete ihm entgegen. Es war handbeschrieben. Er begann zu lesen.

Lieber Harry,
natürlich weiß ich, wie viel du zur Zeit wahrscheinlich zu tun hast - deine UTZ's und dann ist es sicherlich sehr anstrengend, von allen Leuten bewundert zu werden. Aber trotzdem habe ich mir erlaubt, dir zu schreiben und dich um einen Besuch zu bitten.
Wir haben uns schon kennengelernt, ich bin Andromeda Tonks, Mutter von Nymphadora. Wie du ja weißt, bin ich es, der die Ehre und Pflicht auferlegt wurde, den kleinen Ted großzuziehen.
Du, Harry, bist ja der Pate des Kleinen - ich weiß die Wahl von Remus und Dora wirklich sehr zu schätzen. Aber ohne zu genau zu werden, möchte ich dich bitten, uns an deinem übernächsten Wochenende zu besuchen. Professor McGonagall wird dir sicher erlauben, Hogwarts für die kurze Zeit zu verlassen. Ich und Teddy würden uns sehr freuen!
Bitte gib mir deine Antwort so schnell wie möglich durch, dann können wir die Einzelheiten klären.
In der Hoffnung, dass es dir gut geht - Andromeda Tonks

Harrys Laune wurde noch besser.
»Von wem ist der?«, fragte Hermine. Harry reichte ihr den Brief. Sie las ihn und warf Harry dann einen erfreuten Blick zu.
»Du wirst doch hingehen?!«, fragte sie froh.
»Klar!«, antwortete er.
»Remus und Tonks würden sich freuen, glaub mir! Du bist bestimmt ein wunderbarer Pate!«, sagte Hermine überzeugt.
»Ja«, stimmte Ron zu, »Schließlich weißt du am Besten, wie er sich fühlen muss!« Dieser Gedanke war Harry auch schon gekommen. Er wusste, wie es war, keine Eltern zu haben. Wenn die Eltern für die eigene, die Zukunft ihres Kindes gestorben waren.
Er kramte eine Feder aus der Tasche seines Umhangs. Dann schrieb er auf die Rückseite des Briefes:

Liebe Dromeda,
ich würde mich freuen, euch besuchen zu können! Ich werde mit Professor McGonagall reden.
Liebe Grüße auch an Ted
Harry

Mit ehrlicher Vorfreude schickte er die Eule auf den Rückweg.

Why? || DrarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt