IX

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Dunkel, wie durch einen Schleier nehme ich verschwommen eine Bewegung wahr. Als hätte mir jemand einen Hammer auf den Kopf geschlagen, beginnt es mit voller Wucht zu pochen. Der Schmerzpegel steigt, in rasanter Geschwindigkeit scheint mein Gehirn einer Explosion immer näher zu kommen. Hilflos kralle ich meine Finger in den weichen Stoff der Matratze, versuche irgendwie Ablenkung zu finden, klare Sicht zu erlangen, den Schmerz zu ignorieren.

Es wird nur schlimmer. Dröhnend gräbt sich eine laute Stimme in mein Gedächtnis, hallt laut wieder, verstärkt sich. Als würde ich inmitten eines unendlich großen Kriegsplatzes stehen. Über mir lautstarke Hubschrauber, neben mir lärmende Panzer, unüberhörbares Schießen tausender Soldaten. Kein Wort kommt über meine Lippen, der grelle Hilfeschrei meinerseits bleibt aus. Kraftlos berühren zitternde Finger meine kochend heiße Stirn. Schweißtropfen rinnen herab, gleichen sich dem unregelmäßigen Pochen an.

Schmerzhaft zucke ich zusammen, erneut, wie aus dem Nichts eine Stimme, mich nicht erreichende Worte. Machtlos versuche ich sie zu verstehen, mir einen Reim aus verwirrten Buchstaben zu machen. Anstatt Sätze zu verstehen, verkleinert sich meine Sicht, es scheint als würde ich mehr und mehr nicht verstehen, nichts mehr sehen. Immer größer wird die schwarze Umrandung eines immer kleiner werdenden Sichtfeldes. Verzweiflung kocht in mir hoch, droht überzukochen. Eine Suppe voll bedrohlicher Schwärze, brüllendes Sprudeln von zäher Flüssigkeit.

Wie die tosende Brandung einer aufgewühlten See rauscht Blut durch meine Adern, aus Zittern wird Beben. In doppeltem Takt pulsiert mein Herz gegen meine Brust. Synchron zu umhergeworfenen Begriffen, zu leeren Ausdrücken.

Mühevoll richte ich mich auf, kneife meine Augen zusammen. Umso höher ich komme, desto schmerzhafter sticht, dröhnt mein Kopf. Dunkelheit beherrscht mein Zimmer, wird unterbrochen durch eine einzige Lichtquelle. Groß, eckig, an derselben Stelle, an der sich meine Tür befindet. Durchdringender, mir bekannter Geruch strömt mir unerwartet entgegen, lässt mich die Augen schießen, versuchen zu erkennen, um was es sich handeln könnte.

Braune Augen drängen sich in mein Blickfeld, Haare in derselben Farbe. Liam? „Hallo?" Mühevoll kriechen die Buchstaben aus meinem staubtrocknen Hals hervor. Als würden sie sich vor der Außenwelt fürchten, bleiben sie leise, fast stumm, unhörbar. Neuer Schmerz breitet sich aus, diesmal nicht von meinem Kopf, sondern aus der Halsebene kommend. Er sehnt sich nach Wasser, schreit stumm um Hilfe. Tiefes Husten erschüttert mich, lässt mich zusammensacken, auf meinem Kissen landen.

Resigniert hebe ich meinen linken Arm, Daumen und Zeigefinger berühren heiß schwitzende Haut. Ich drücke zu, presse mit aller Kraft meine Finger gegeneinander, spüre die empfindliche Haut zwischen meinen Fingern.

„Du träumst nicht! Ich bin hier hör auf dich zu zwicken, trink etwas!"

Geschockt weiche ich einer weichen Berührung aus, krache an harten Stein. Es lacht. Zu laut. Drohend, donnernd. „Trink das!" Eisige Kälte streift meine Finger, hinterlässt eine dünne Schicht von Wasser. Wie betäubt, von selbst greife ich nach dem mir gereichtem Etwas. Zitternd nähert es sich meinen spröden Lippen, fühlt sich richtig an, als es an ihnen anstößt. Frostige Kälte rinnt meine Speiseröhre hinab. Jeder Schluck fällt mir leichter, jede Sekunde erfüllt mich mit neuer Kraft.

Das Glas wird mir aus der Hand genommen, gleichzeitig blinzle ich. Schnell, oft, hart. Endlich heben sich Möbel aus der schwarzen, bedrohlichen Masse hervor, mein Zimmer ist nach und nach zu erkennen. „Besser?"

Liam! Zu Duft fügt sich Stimme hinzu, nach genauem Hinsehen erkenne ich endlich auch seine Silhouette. Erleichterung durchströmt meine Körper, der Albtraum scheint zu Ende, ich im echten Leben wieder angekommen zu sein. „Was ist passiert?" Immer noch schmerzt es zu reden, lässt mich an meinem Verstand zweifeln. Ist der Traum doch noch nicht zu Ende? Bilde ich mir all das nur ein oder spielt mir jemand einen Streich?

„Gestern war die Party."

Stromschlägeartig blitzen Bilder auf. Ich schließe die Augen, versuche damit zu vertreiben, was mich erinnern lässt. Unmöglich. Tanzende Menschen, getrunkener Alkohol, geküsste Küsse, getanzte Tänze, geschriene Worte wollen mein inneres Auge nicht verlassen. In rasendem Tempo wechselt das Bild, keins scheint sich zu wiederholen. Schwindel lässt mich nach Liam fassen, hilflos warte ich auf ein nicht vorhersehbares Ende.

Bis es wie aus dem Nichts kommt, mich plötzlich überrumpelt: Pure Schwärze.

„Liam, da ist es schwarz. Ich seh nur noch schwarz!" Mein Herzschlag verdoppelt sich, der Griff um den Arm meines Freundes verstärkt sich, wird panisch. „Du hast ein Blackout. Alles ist gut ok." Beruhigend fahren seine Finger mein Bein auf und ab, malen Kreise, lassen mich atmen.

„Du solltest nie wieder so viel Alkohol trinken!" Eine Antwort meinerseits fällt aus, zu sehr bin ich damit beschäftigt mich auf sein Streicheln zu konzentrieren. Die Angst erneut von hoffnungsloser Schwärze eingenommen zu sein lähmt mich beinah. „Danke!", meine Stimme ein Wispern, meine Worte so schwach.

„Zieh das an", große Hände reichen mir ein schwarzen T-Shirt, an dem Colazeichenaufdruck erkenne ich, dass es eines von seinen sein muss. Verwirrt vergraben sich meine Finger in dem weichen Stoff, automatisch versenke ich meine Nase darin, atme den Duft meines besten Freundes ein. „Deine Bluse stinkt wie eine Wodkaflasche!" Er deutet darauf, schiebt liebevoll meine Hände weg von mir, greift nach dem Saum meines Oberteils. Ein Schauer durchfährt meinen Körper, samtige Haut schmiegt sich an meine, wandert meine Taille hinauf. „Arme hoch", säuselt er in mein Ohr. Ich tue was er sagt, der Stoff meiner Bluse ist weich, knistert während sie mir ausgezogen wird. Nur noch das Geräusch zweier gleichbleibender Atemgeräusche bringt die Luft zum Beben. Zitternd strömt er aus unseren Lungen hervor, trifft zitternd aufeinander, lässt die Umgebung durch aufsteigender Hitze erschaudern.

Kälte verursacht Gänsehaut auf meinem gesamten Oberkörper, nur im BH sitze ich vor ihm, blicke ihm starr in die Augen. Wieso strahlen sie so unendlich viel Sicherheit aus? Warum scheint es als würde mein Herz sich öffnen, ich mich wie in einer riesigen, nie endenden Umarmung befinden. Als wäre ich angekommen, würde für immer in Schutz und Geborgenheit leben. Jemand meinte einst, braune Augen stünden für Zärtlich- und Ehrlichkeit. Sie seien treu, leidenschaftlich, ehrlich und empfindsam. All das jedoch rückt mehr und mehr in den Hintergrund. Für mich ist er meine Heimat.

Den Blick des anderen nicht ausweichend gebe ich mich für einen weiteren, winzigen Moment seiner Zärtlichkeit hin. Haut auf Haut, Wärme auf Wärme, Finger auf Arm. Wäre ich eine Katze, ich hätte begonnen zu schnurren. Dann, genauso plötzlich wie die unerwartete Liebkosung begonnen hatte, hört sie wieder auf, eine durchsichtige Mauer scheint sich aufzubauen, Liam von Mai und Mai von Liam zu trennen. Ohne jegliche Emotion hilft er mir das neue T-Shirt anzuziehen, schenkt mir noch ein zaghaftes Lächeln bevor er sich erhebt. Die dreckige Kleidung wird zu ordentlich auf meinen Schreibtischstuhl gelegt, das Glas Wasser findet einen sicheren Platz zwischen Büchern und Nähzeug.

„Kannst du dich erinnern?" „Erinnern an was?", seine Stimme hat einen leiseren, fast unsicheren Ton angenommen. Jegliche Vertrautheit scheint dahin. Verwirrt reibe ich mir die Augen, fahre über mein Gesicht, versuche zu klaren Gedanken zu kommen. „I... ich meine gestern. Bitte sag was passiert ist." Er schluckt, ich höre es genau. Dann schüttelt er den Kopf, schluckt erneut. „Ist es so schlimm?", meine Stimme bebt. Dieses Loch in mir, diese Dunkelheit wächst, wird unerträglich. Je länger er schweigt, kein Ton über seine Lippen kommt, umso unbehaglicher fühle ich mich, desto mehr beschleicht mich eine schreckliche Vorahnung.

„Ich hätte auf dich aufpassen sollen!" Leises Fluchen kommt über seine Lippen, unruhig beginnt sein Knie auf und ab zu wippen. Mühevoll bewege ich meine Beine hinunter auf den Boden, meine Zehen zucken zurück, zu überraschend die aufkommende Kälte. Umständlich berühre ich sein wackelndes Knie, lasse meinen Finger sanft darüberstreichen um ihn zu beruhigen. Er hebt seinen Blick, betrachtet mich still. Kurz scheint er in mich hinein zu sehen, mich eingehend zu mustern, herausfinden zu wollen, was an Gesagtem ich vertragen könnte.

„Es gibt ein Video."

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