1. Opfer

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Herr Kommissar Winter setzte einen Fuß von der eisigen Kälte draußen, in die Wärme seiner Polizeidirektion. Was für eine Ironie, dass sein Nachname so wunderbar zur herrschenden Jahreszeit passte. Schnellen Schrittes lief er am Eingangsschalter vorbei, begrüßte den Wachmann mit einem Nicken und steuerte dann sein Büro an. Er öffnete die Tür und wollte gerade seinen Wintermantel ausziehen, um ihn auf den Kleiderständer in der Ecke zu hängen, als sein Blick auf eine braunhaarige Frau fiel, die es sich auf dem drehbaren Stuhl vor seinem Schreibtisch bequem gemacht hatte.

Er hielt schlagartig in seiner Position inne und hob fragend eine seiner Augenbrauen. Normalerweise fand er sein Büro am frühen Morgen immer leer vor.

"Du kannst die Jacke gleich wieder richtig anziehen, wir müssen los", stellte die Frau fest und drehte sich mit einem leisen Quietschen des Stuhls vollständig zu ihm um. Schnell erhob sie sich und drückte sich an ihm vorbei durch die Tür.

"Ein 'guten Morgen' wäre auch nett gewesen", rief der Kommissar ihr in einer Andeutung von Sarkasmus hinterher, folgte seiner Partnerin allerdings ohne Widerstand zu ihrem Polizeiauto.

Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen und startete den Motor genau in dem Moment, als er sich gerade angeschnallt hatte. "Also...?", begann er fragend und ließ den Satz im Auto verklingen, in der Hoffnung, seine Partnerin würde ihn beenden. Tatsächlich tat sie ihm den Gefallen. "Michi hat mich heute früh angerufen, kaum zwei Minuten nachdem ich die Dienststelle betreten habe. Du warst ja mal wieder unerreichbar." Sie löste ihren Blick von der Fahrbahn, um ihn kurz strafend anzusehen.

Mag sein, dass er vergessen hatte sein Handy aufzuladen. Mag sein, dass das vielleicht öfters bei ihm vorkam. Doch das war wohl noch lange kein Grund ihm das vorzuhalten. Genervt verleierte er die Augen und bedeutete seiner Kollegin, weiterzureden.

"Jedenfalls hat er eine Leiche. Definitiv ein Gewaltverbrechen." Überrascht flog der Blick des Kommissars zu seiner Linken, zu der Frau, die immer noch auf eine Reaktion seinerseits hoffte. Sicherlich bekam er so eine Nachricht nicht jeden Tag. Meistens handelte es sich bei den Toten, die es sonst in seiner Stadt und ihrer Umgebung gab immer um Personen, die eines natürlichen Todes gestorben waren.

In seiner bisherigen Beamtenlaufbahn waren bisher erst wenige Morde dabei gewesen, die er auch tatsächlich hatte aufklären können. Er war allerdings auch noch ziemlich jung in diesem Job.

Nervös fuhr er sich mit beiden Handflächen über seine Oberschenkel, im Versuch sich damit zu beruhigen. Ein wissender Ausdruck huschte über das Gesicht seiner Kollegin, die ihm noch einen kurzen Blick zugeworfen hatte. Allerdings sagte sie nichts zu seiner Gefühlsregung.

Schnell bog das Auto links ab und kam vor einer kleinen Doppelhaushälfte zum Stehen, vor der auch schon einige weitere Fahrzeuge parkten. Schnell kramten sie ihre Schutzanzüge hervor und streiften sie über, dann ignorierten die beiden Beamten geflissentlich das Absperrband und traten durch die geöffnete Haustür ein.

Innen herrschte schon reges Treiben: Kommissar Winter erkannte ein paar Leute aus seiner Dienststelle, außerdem die Menschen von der Spurensicherung, mit denen er wohl heute eng zusammenarbeiten würde.
Sie ließen sich vom Trubel weiter in die Wohnung führen; betraten nach einem kleinen Flurabschnitt ein wohlig aussehendes Wohnzimmer und danach eine Küche. Endlich machte der Kommissar einen schwarzen Haarschopf aus, der in der Hocke über eine am Boden liegende Frau gebeugt stand.

"Michael", begrüßte Kommissar Winter ihn kurz und beugte sich, genau wie der schwarzhaarige Rechtsmediziner, über die Person auf der Erde.

Fünf blutrote BleistifteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt