Hauptteil II

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Ich starre lange auf die Zeilen meines beschriebenen Papiers. Schon so lange, dass die Buchstaben anfangen vor meinen Augen zu verschwimmen. Vorsichtig reiße ich meinen Blick von den gleichmäßigen Linien meiner Handschrift und drehe meinen Kopf mit geschlossenen Augen nach rechts und links.

Die Muskeln in meinem Hals schreien mich an, ich solle gefälligst nicht mehr so gebückt über meinem Schreibtisch hocken und so gebe ich seufzend nach und stehe auf, um ihnen ein paar Minuten wohlverdienter Ruhe zu schenken.

Beim Aufsetzen meines rechten Beines auf die Erde schießt ein noch schlimmerer Schmerz hindurch, als eben durch meinen Nacken und so fasse ich unwillkürlich an die betroffene Stelle. Ich merke, wie mir ungewollt Tränen hochkommen und kneife schnell die Augen zusammen, um sie nicht überlaufen zu lassen. Ich warte, bis sich mein Bein wieder an die Belastung des Stehens gewöhnt hat und versuche es so gut es geht zu entlasten. Nach einigen Sekunden richte mich dann langsam ein Stück wieder auf.

So lange zu sitzen und zu schreiben war wohl keine gute Idee.

Endlich kann ich mich ganz aufrichten und wische mir dabei gleichzeitig die nassen Augen trocken. Ich drehe eine kleine Runde in meinem Zimmer. Schlussendlich bleibe ich in der Mitte des Raumes stehen und werfe meinem beschriebenen Blatt einen erneuten Blick zu.

Ich bin ganz zufrieden, wie sich die Handlung bis jetzt entwickelt hat.

Natürlich muss erst einmal alles erneut überarbeitet werden, bis ich ganz zufrieden sein würde, doch lange würde es nicht mehr dauern und ich hätte ein neues Werk fertig gestellt.

Ein kleines Lächeln legt sich auf meine Lippen, der Schmerz in meinem Bein ist vergessen. Ich merke, wie ungewohnt diese kleine Geste der Freude doch geworden ist.

Früher war ich ein so lebensfroher Mensch. Voll Freude, Zufriedenheit und Glück.

Voll Liebe.

Letzteres hat sie mich gelehrt.
Letzteres wurde mir genommen.
Letzteres hat mich zerstört.

Mir wird das Ziehen und Pochen in meinem Bein erneut mit einem Schlag bewusst und ich bin froh, dass ich dies fühle. Das Leiden habe ich verdient. Wenn mich die Schuld von innen auffrisst bin ich dankbar für jeden Schmerz, den ich fühle. Als könnte dieser mir ein wenig von der Schuld nehmen, denn auch ich muss deswegen leiden.

Ich denke oft darüber nach, wie es ist zu sterben.

Wie stark der Schmerz ist, den man Sekunden vorher fühlt. Ob es genau dieser Schmerz ist, der den Körper schlussendlich zerreißt.

Und danach dieses riesige Nichts.

Was passiert mit dem Teil, der uns ausmacht, der uns zu dem macht, was wir sind? Der Teil, der geprägt ist von Gedanken und Gefühlen.

Der Teil, den andere Menschen wohl als 'Seele' bezeichnen.

Fliegt er davon und vereint sich mit längst vergessenen anderen Seelen? Treffen wir verstorbene Freunde und Verwandte nach dem Tot wieder?

Denn wenn es so ist, möchte ich nicht mehr leben. Wenn es so ist bevorzuge ich die Toten.

Ich würde sie immer vorziehen, könnte ich nur alles rückgängig machen.

Ich trete wieder stärker auf und hoffe auf den Schmerz in meinem Bein, der mich normalerweise so zuverlässig aus meinen Gedanken herauskatapultiert, doch vergebens- ich fühle rein gar nichts mehr.

Seufzend mache ich mich auf, zurück zu meinem Schreibtisch und greife nach dem mittleren der drei blutroten Bleistifte. Es wird Zeit diese deprimierenden Gedanken zu verdrängen und all meinen Verstand und Herzblut in mein neues Buch zu stecken.

Fünf blutrote BleistifteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt