Stolz auf mich selbst wandere ich am nächsten Tag ein wenig durch das Zimmer. Mein Blick fliegt erneut zu dem nun beschriebenen Blatt Papier. Das erste Kapitel konnte ich schon in der Rohfassung fertigstellen. Den ganzen Tag habe ich daran geschrieben, mit nur einer kurzen Unterbrechung am frühen Abend.
Es ist immer wieder schön, ein neues Werk wachsen zu sehen. Wie sich Zeile um Zeile auf dem Papier ausbreitet und eine neue Geschichte niedergeschrieben wird.
Es gibt mir immer von Neuem das Gefühl unbändiger Macht.
Macht über die Nebendarsteller und Hauptcharaktere. Macht darüber, welche Person, was sagt oder wie sie handelt. Macht darüber, wer lebt und wer stirbt.
Diese Macht hat leider niemand im echten Leben. Ich hätte sie gerne. Vielleicht hätte ich dann alles verhindern können.
Verzweifelt und plötzlich wütend auf mich selbst trete ich mit voller Wucht gegen eines der Tischbeine meines Schreibtisches. Es gibt einen lauten Wumms, ein Knarzen und er gerät gefährlich ins Wanken.
Den Schmerz in meinem Fuß spüre ich vor Wut kaum, es fühlt sich nur an wie einer dieser lästigen Insektenstiche, die man im Sommer vor lauter Juckreiz aufgekratzt hat.
Einige Blätter aus der Ablage auf dem Schreibtisch rieseln zu Boden und verteilen sich im Zimmer. Ich ignoriere sie, obwohl ich Unordnung hasse. Die vorher noch nebeneinander liegenden vier blutroten Bleistifte rollen durcheinander, bleiben aber auf dem Schreibtisch liegen.
Immer noch wütend raufe ich mir durch die kurzen, rabenschwarzen Haare. Ich merke wie ich langsam zu Boden sinke, bis ich mich in einer gehockten Position befinde. Mein Bein protestiert, doch ich höre nicht auf den pochenden Schmerz. Ich habe mich schon an ihn gewöhnt.
Vor mir knistert ein loderndes Feuer im Kamin. Das Licht erwärmt mein Gesicht und lässt die Haut an meinen Händen in einem orangerot erscheinen. Zögerlich senke ich den Blick, bis ich schließlich meine Augen vollkommen schließe.
Erneut spielen sich vor meinem inneren Auge die letzten Sekunden vor dem Ereignis ab, was mein Leben komplett veränderte.
Die Millisekunden die ich vor der Kurve abgelenkt war, weil ich sie betrachtet habe. Ihr wunderschönes Gesicht. Der Mund, der immer zu einem Lächeln verzogen gewesen ist. Die fröhlich blitzenden blauen Augen. Die langen blonden Haare, die sie jedes Mal, wenn sie ihr ins Gesicht rutschten unwirsch nach hinten gestrichen hatte.
Schnell reiße ich meine Augen wieder auf und versuche das Bild zu verdrängen. Ich habe im Hinterkopf immer die schreckliche Angst, es würde sich in meine Augen brennen und ich könnte sie nie vergessen.
Vergessen.
Will ich das eigentlich?
Kann man überhaupt jemanden wie sie vergessen?
Jemanden, der einem alles bedeutet hat?
Langsam erhebe ich mich, streiche mir zitternd über mein Gesicht, bemerke die Bartstoppeln, die ich wohl längere Zeit nicht abrasiert habe und fange erneut an, durch das Zimmer zu wandern, im Versuch mich zu beruhigen.
Der Versuch scheitert kläglich, bin ich doch zu aufgewühlt um wieder herunterzukommen. Ich spüre deutlich meinen Herzschlag, der sich auch nicht verlangsamen will.
Ich humpele ziellos weiter durch mein Zimmer und raufe mir durch meine Haare, so lange, bis sie aussehen als hätte ich sie wochenlang nicht mehr gekämmt.
Irgendwann komme ich zu der Erkenntnis, dass es nur eines geben kann, was mich beruhigen könnte: Schreiben.
Also setze ich mich geschwind auf meinen Schreibtischstuhl, nehme einen der vier blutroten Bleistifte und beginne mit immer noch zitternder Hand ein neues Kapitel.
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Fünf blutrote Bleistifte
Short Story»Ein Schriftsteller arbeitet an einem neuen Kriminalroman.« Kommissar Jonas Winter beginnt in einem Fall zu ermitteln, in dem eine junge Frau erstochen aufgefunden wird, doch ein Motiv und auch Verdächtige für die Tat scheint es nicht zu geben. Als...