Hauptteil IV

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Ich wandere durch die Kälte und ziehe mir meine schwarze Kapuze weiter nach vorn. Trotzdem finden einige Schneeflocken noch ihren Weg unter die Vermummung, mitten in mein Gesicht.

Ich hasse Winter.

Mag sein, dass die Landschaft kurz schön aussieht, mit dieser weißen Schneeschicht, doch wenn dann Tauwetter einsetzt, erscheint alles in einem hässlichen, dreckigen grau-braun.

Sie hat den Winter immer geliebt.

Und ich habe es gemocht, wie die kleinen Flocken, die mir heute einfach nur noch kalt und hässlich erscheinen, in ihren blonden Haaren gelandet sind und dort wie Kristalle geglitzert haben.

Wie ihre Wangen sich rot gefärbt haben, durch die Kälte und sie mit einem lauten Lachen meinen geworfenen Schneebällen ausgewichen ist.

Wie sie sich, wie ein kleines Kind, rückwärts in den Schnee fallen lassen hat, um einen Schneeengel zu formen, damit sie sich dann von mir aufhelfen lassen kann.

Wie ich neben ihr im Schnee gelandet bin, weil sie mich mit zu ihr hinunter gezogen hat. Und dann der warme Kuss, der mich alle Kälte hat vergessen lassen.

Meine Hände zittern. Ob vor Kälte oder wegen den Erinnerungen, weiß ich nicht. Ich vergrabe sie einfach tiefer in meinen Hosentaschen und versuche die Gefühle zu ignorieren, die mich wieder zu überwältigen drohen.

Kurz lasse ich meinen Blick in den immer dunkler werdenden Himmel wandern und starre dann in das Licht einer nicht weit entfernten Straßenlaterne. In diesem Licht sehe ich das Schneetreiben noch deutlicher. Kaum eine einzelne Flocke ist mehr erkennbar, es sieht mehr aus, wie eine Flut, die unabdinglich weiter gen Boden getrieben wird.

Ich hole tief Luft, obwohl dies ein Gefühl auslöst, als würde meine Lunge gefrieren, dann atme ich sie in einem Schwall wieder aus. Ich bleibe stehen und starre weiter in die Dunkelheit, bis ich Schritte hinter mir vernehme, die nur gedämpft zu hören sind, durch die immer dicker werdende Schneeschicht.

Die Schritte kommen schnell immer näher, bis eine junge Frau, etwa in meinem Alter an mir vorbei joggt. Sie würdigt mich keines Blickes, ich bin nicht mal ganz sicher ob sie mich überhaupt in der Dunkelheit gesehen hat, die mich nahezu verschluckt.

Ein paar Meter entfernt von mir wird sie jedoch plötzlich langsamer und hält sich dann an der Straßenlaterne fest, in deren Licht ich gerade noch die Schneeflocken gesehen habe. Sie hebt ihren Fuß, stemmt ihn gegen die Laterne und beginnt sich langsam vor und zurück zu bewegen, um ihre Muskeln nach dem Laufen zu lockern.

Still beobachte ich sie dabei und löse mich erst wieder aus meiner Starre, als sie ihren Haargummi um ihren blonden Zopf enger zieht und langsam quer über den Fußgängerweg zu einem Eisentor läuft.

"Moment, Bitte!", rufe ich laut und bemerke belustigt, wie sie zusammenzuckt und unwillkürlich mit der flachen Hand auf ihren Brustkorb schlägt. Ich habe sie wohl erschreckt.

Ich humpele zu ihr, während sie mich abwartend mustert.

"Entschuldige, aber ich habe den Schlüssel in meiner Wohnung liegen lassen und komme nicht mehr herein. Dürfte ich dein Telefon benutzen?", erkläre ich ihr und entscheide mich blitzschnell dafür, sie einfach zu duzen.

Sie schenkt mir einen misstrauischen Blick, bevor sie dann doch vertrauen zu fassen scheint. "Klar, aber ich habe mein Handy nicht beim Laufen dabei. Komm ruhig mit rein, ich wohne gleich hier."

Ein breites Lächeln zieht sich über mein Gesicht, als ich ihr durch das Tor und einen kleinen Vorgarten folge. So hilfsbereit ist sie auch immer gewesen.

Sie öffnet mir die Tür zu ihrem Haus und ich mache mir nicht mal die Mühe, meine Handschuhe auszuziehen, sondern folge ihr einfach in ein kleines Wohnzimmer.

Sie hält mir das kleine Gerät hin, doch ich nehme es nicht an mich, sondern krame in meiner Hosentasche, um ihr meinen fünften und letzten blutroten Bleistift zu geben. Sie nimmt ihn vorsichtig und scheint zu überlegen, was sie damit anfangen soll. Ich betrachte sie eine Weile einfach nur stumm.

Wieso darf sie leben?

Fünf blutrote BleistifteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt