1 | Gefühlschaos

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Ein kalter Windstoß, der mich mit einer beißenden Kälte erfasste und mir durch Mark und Bein ging, zog über den Bahnhof und ich band mir meinen Schal noch fester um, damit ich mich nicht verkühlte. Ich klammerte mich fester an den Griff meines kleinen Trolleys, dessen Vorderseite schon etwas abgenutzt war und versuchte das Zittern zu unterdrücken. Menschenmengen strömten überall über Bahnhof - Alle waren in Eile. Ich stand mit ein paar anderen Leuten am Bahnsteig und wartete sehnsüchtig auf meinen Zug, der mich wieder nach Hause bringen würde, da ich die letzten Tage nämlich bei meinen Freunden in Belgien verbracht hatte. Der sehnliche Wunsch nach Wärme machte sich in mir breit und ich verfluchte mich selbst, dass ich keine andere Jacke angezogen hatte. Unbemerkt ließ ich meinen Blick zu einem Mädchen, das in meiner Nähe stand, schweifen. Sie trug eine dicke Wollmütze, darunter schauten ein paar wilde rote Locken hervor, die meiner Empfindung nach, gefärbt sein mussten. Ein dicker schwarzer Mantel umhüllte das Mädchen und sie schien, im Gegensatz zu mir, nicht zu frösteln. Sehnsüchtig warf ich wieder einen Blick auf meine Armbanduhr und seufzte leise: Der Zug hatte auch noch Verspätung und das, bei dieser Kälte! Irgendwann begann der Boden zu beben und mein Blick fiel hoffnungsvoll zu den Gleisen, während ich von einem Bein auf das andere trat. Tatsächlich fuhr der Zug endlich in den Bahnhof ein! Ich umklammerte meinen Trolley etwas fester und beobachtete, wie der Zug schließlich einfuhr und mit einem Ruck zum Stehen kam. Ich eilte zu einer Tür, ließ einige Leute aussteigen und stieg schnell ein, bevor die Menschenmenge hinter mir kam. Kaum war ich im Zug angekommen, umhüllte mich eine angenehme, wohltuende Wärme und ich setzte mich auf einen freien Platz am Fenster, nachdem ich den Trolley endlich verstaut hatte. In diesem Abteil war überraschend wenig los, was mich noch mehr freute, denn auf Stehen hatte ich jetzt überhaupt keine Lust. Leise seufzend lehnte ich mich zurück und steckte mir Kopfhörer ins Ohr. Als der Zug sich in Bewegung setzte, sah ich beim Fenster hinaus: Jetzt regnete es draußen in Strömen und ich war froh hier im warmen Zug zu sitzen. Außer den vielen Regentropfen konnte ich auch noch Teile meines verschwommenes Spiegelbildes auf der Fensterscheibe erkennen; Meine glatten, braunen Haare fielen mir bis zur Schulter und meine Kaputze hing mir viel zu tief ins Gesicht. Rasch klappte ich sie weg und sah auf mein Handy: Ich hatte eine neue Nachricht von Amy, einer meiner Freundinnen, bei der ich diese Woche übernachtet hatte.

Amy: Gute Heimreise, Jill! Wir sehen uns in den nächsten Ferien wieder. Die Mädels freuen sich schon.

Rasch tippte ich eine Antwort und lehnte mich an das mittlerweile beschlagene Zugfenster. Ich hatte diese Woche ziemlich genossen, aber jetzt war es mit dem Spaß vorbei: Die Ferien gingen dem Ende zu und in zwei Tagen fing die Schule wieder an. Ich wollte nicht in die Schule, denn dort würde wieder alles von vorne beginnen. Die Gefühle vom letzten Jahr würden wieder in mir hochkommen und ich würde mich wieder hilflos fühlen. Ich war ein Mensch wie jeder andere und dennoch fühlte ich mich anders.
Alles begann letztes Jahr:
In der Schule bekamen wir am Anfang des Jahres viele neue Lehrer - Generell wurde vieles anders: Wir bekamen auch neue Stundenpläne und neue Schüler.
In der Früh, am ersten Schultag, war ich in Eile und ziemlich spät dran, deshalb rannte ich von der Busstation schnell Richtung Schulhof. Es war viel los hier auf dem Schulgelände: Zu meiner Überraschung eilten noch viele Schüler umher, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Ich mochte diesen Stress überhaupt nicht und verlor bald den Eingang aus den Augen. Gehetzt versuchte ich mir einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, doch plötzlich wurde ich von der Seite gestoßen und verlor zu meinem Pech auch noch das Gleichgewicht. Ich stieß mit jemandem zusammen und fiel auf den harten Boden. Au! Ein schmerzhaftes Gefühl machte sich in meinem Körper breit und ich biss die Zähne zusammen. Es flogen Zettel herum und fielen dann wirr zu Boden. Ich suchte nach der Person, mit der ich zusammengestoßen war und entdeckte vor mir eine Frau am Boden, die leise fluchte und instinktiv rappelte ich mich schnell auf. Verdammt, das war mir extrem peinlich.
"Entschuldigung", murmelte ich schnell und streckte der schwarzhaarigen Frau meine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. Sie wirkte, als wäre sie um die 30 - Vielleicht war sie Lehrerin? Ich kannte sie definitiv nicht, sie war mir hier noch nie vorher aufgefallen. Ihre blauen Augen fanden meine, ihr Gesichtsausdruck wurde etwas weicher und sie nahm schließlich doch dankbar meine Hand: "Schon gut. Danke" Ich half ihr auf und wir sammelten gemeinsam die Blätter, die sie verloren hatte, ein. Ich sah um mich: Der Platz hatte sich mittlerweile fast geleert. Die Schüler waren wahrscheinlich schon im Gebäude. Verdammt, wahrscheinlich hatte die Stunde schon angefangen..!
"Ich muss jetzt leider schnell in den Unterricht, sonst mache ich schon am ersten Schultag einen schlechten Eindruck", teilte ich der Frau entschuldigend mit, als ich ihr meine eingesammelten Zettel gab.
Die schwarzhaarige Frau, sah mich kurz an, dann nickte sie: "Welches Fach hast du jetzt?"
Ich überlegte angestrengt: "Ähm, ich glaube Englisch" Als mir wieder einfiel, dass wir genau in diesem Fach heute eine neue Lehrerin hatten, hätte ich am liebsten gestöhnt. Es machte sicherlich keinen guten Eindruck bei ihr, am ersten Tag zu spät zu kommen...Die Mundwinkel der Frau hoben sich und sie nickte erneut: "Na dann, beeil dich lieber, aber ich bin mir sicher, dass dein Lehrer oder deine Lehrerin heute noch nicht so streng sein wird" Ich wusste nicht, ob ich dem zustimmen konnte. Es gab an dieser Schule Lehrer, die ziemliche Pfeifen waren, aber das musste ja nicht auf jeden zutreffen. Vielleicht war diese neue Lehrerin (Miss Rose, wenn ich mich richtig an den Stundenplan erinnerte) auch nett. Trotzdem wollte ich mich hier nicht länger aufhalten, am Ende würde ich vielleicht doch noch negativ auffallen, deshalb beendete ich das Gespräch schnell, lief ins Schulgebäude und hetzte die Treppen hinauf. Überraschenderweise war noch kein Lehrer hier, als ich die Klasse betrat. Alle anderen aus meiner Klasse redeten immer noch wild durcheinander. Ich war erleichtert und setzte mich schnell auf einen freien Platz in einer hinteren Reihe. Im nächsten Moment flog auch schon die Tür auf und eine Frau mit einem Stapel Blätter trat ein. Schwarzes Haar, blaue Augen - Oh mein Gott: Sie war die Frau, die ich vorher umgestoßen hatte! Das konnte doch jetzt nicht wirklich passieren! War sie meine neue Englischlehrerin? Das Murmeln in der Klasse wurde leiser, bis es schließlich ganz erstarb. Alle Blicke waren zur Tafel gerichtet, wo die Frau von vorher zum Stehen kam und in die Klasse lächelte, nachdem sie ihre Unterlagen abgelegt hatte: "Guten Morgen! Ich bin Miss Rose"...

Admiring her | girlxgirl Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt