7. September

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"Lange nicht mehr gesehen".
Ich drehte mich harsch um, da ich von dem plötzlichen Durchbruch der Stille ziemlich erschrak.
Vor mir stand Samuel mit Händen vergraben in der Hosentasche und einem Gesicht, das von einer Haube bedeckt wurde.
"Wie hast du mich gefunden?", sprach ich meine Gedanken aus. An diesem Ort besuchte man keine Menschen, man kam nicht hierher, um Menschen zu finden. Zumindest nicht lebendige.
"Zufällig. Der Stiefbruder meiner Mutter liegt hier". Er blinzelte mich an und schniefte einmal kurz, bevor er sich neben mich stellte und mit mir gemeinsam auf die Ruhestätte vor mir herunterblickte. Samuel wirkte ungewöhnlich starr neben mir.
"Mein Beileid", murmelte er, während er die ganzen Rosen und Kerzenlichter ansah. Ich nickte nur anerkennend, da mein Hals sofort wieder zugeschnürt von Trauer war. Es fühlte sich jedes Mal an, als würde man mich würgen. So lange, bis ich kurz vorm Ersticken war. Dann ließ mein Peiniger los. Das Schlimme war, ich konnte meinen Schänder niemals zurückangreifen oder gar bekämpfen. Denn mein Peiniger war der Schmerz.
Die Tränen berührten meine kalten Wangen und Samuel reichte mir ein Taschentuch. Ich wischte sie mir zur Seite.
Ich wollte nicht vor anderen weinen. Schon gar nicht vor ihm.
"Seid ihr euch nahe gestanden?". Sein Blick fesselte mich von der Seite, das konnte ich aus dem Augenwinkel erkennen und trotzdem ließ ich meine Augen nicht von den eingemeisselten Inschriften los. Alles was von einem Menschen blieb, welcher von hunderten geliebt wurde, war ein kalter, trostloser Stein, inmitten eines Beetes, das langsam verwitterte. Die Zeit hinterließ niergendswo ihre Spuren so grässlich wie hier. Man konnte die Vergangenheit spüren und den Sand hören, der langsam von dem einen Sanduhrenkopf in den anderen rieselte. Es war so vergänglich. Wir waren so vergänglich 
"Nichts konnte uns trennen", kam ich auf seine Frage zurück. Nichts konnte uns trennen und dabei waren immer so distanziert.
Meine Hände steckte ich in meinen Hoodie. Ich fing allmählich ohne Jacke an zu frösteln und Samuel bekam sicherlich Zweifel an meinem gesunden Verstand. Wer kleidete sich bei diesem Wetter auch schon so? Ich hatte keine Lust es zu erklären, nicht schon wieder.
Als er meine Worte zu verarbeiten schien, wurde sein Ausdruck härter. Er begann, den Grabstein auf einmal so skeptisch zu mustern.
Ich mochte diese Skepsis nicht. Man sollte sie nicht mehr so ansehen. Das hatte sie niemals verdient.
Hätte man sie jemals so angesehen, oh Gott, sie wäre durchgedreht. Sie hätte denjenigen sofort mit Sprüchen fertig gemacht und mir am Ende ihr Siegerlächeln mit den weißen, nicht ganz geraden Zähnen gezeigt. Der ganze Schulhof hätte sie bewundert und den eben Gescheiterten mitleidig angesehen. Viele nannten sie die Königin der Oberstufe, doch sie hasste diesen Namen. Eleanor war keine Königin gewesen. Eleanor war eine Kriegerin. Wenn sie einen Raum betrat, leuchtete um ihr alles auf. Als wäre sie ein Filmstar, auf den alle Scheinwerfer gerichtet waren. Sie hatte soviel Anmut und Charme, dass man an ihren Lippen klebte, sobald sie anfing zu reden.
Aber ich kannte nicht nur die Kriegerin. Ich kannte auch die Gefallene in ihr. Und genau das verband uns, fesselte uns aneinander. Die Nächte, in denen ich sie weinen hörte, schreien und um sich schlagend. Minuten, Stunden. Bis sie aufstand, an meinem Zimmer vorbei, aus unserem weißen Reihenhaus. Eleanor lebte so zwiegespalten. Sie kam oft erst am frühen Morgen zurück, tiefe Schatten unter ihren Augen. Aber sie setzte sich nach jedem ihrer heimlichen Ausflüge zu mir ans Bett. Keine Ahnung, ob sie glaubte, dass ich wirklich schlief, oder einfach nur wollte, dass ich es hörte. Sie erzählte mir wunderschöne Dinge, beschrieb oft, wie lieb sie mich hatte.
Und bevor unsere Eltern aufwachten, verkroch sie sich zurück ins Bett. Ich hätte gerne mit ihr darüber gesprochen. Darüber, dass es okay war, Schwäche zu zeigen, dass ich sie immer gleich wertschätzte und insgeheim hätte ich auch mal gern gefragt, ob sie mich mitnehmen konnte.
Eleanor schirmte alles vor mir ab am Tag, behandelte mich, als wäre ich nicht reif genug, dabei waren es doch gerade zwei Minuten die uns trennten.
"Hör auf damit". Meine Stimme klang leer und bestimmt.
"Womit?". Samuel sah mich wieder an. Er schien verwirrt zu sein.
Natürlich war er das.
Ich hatte ihn ohne Grund angefahren. Zumindest für ihn ohne Grund.
"Irgendetwas an ihr in Frage zu stellen". Er nickte kaum merklich. Aus der Verwirrung in seinen Augen wurde Verständnis.
"Ich zweifle nicht. Mich beschäftigt nur, wie ähnlich du ihr siehst. Ich studiere ihr Bild seit mindestens fünf Minuten und mir fällt kein einziger Unterschied auf. Es ist absurd, wie gleich ihr seid". Es war nicht das erste Mal, dass ich sowas hörte. Ich wurde oft verwechselt mit ihr, sogar unsere Familie tat sich manchmal schwer. Vor dem fünfundzwanzigsten August sah ich immer nur Jasmin, wenn ich in den Spiegel sah. Ich fühlte mich nie gleich, hatte nie das Gefühl, mein Aussehen zu teilen. Aber seit wir nicht mehr nebeneinander vorm Spiegel standen, sah ich Eleanor in mir durchkommen. Manchmal waren es ihre Augen, manchmal ihre Haare und manchmal ihr Körper. Ich ertrug den Blick in den Spiegel kaum, wollte mein eigenes Gesicht nicht sehen. Wollte ihr Gesicht nicht sehen.
"Wir können gehen", beendete ich das Thema. Ich bot Samuel an, noch an das Grab seines Onkels zu gehen, aber er verneinte. Er meinte, einmal am Tag reiche und die Bindung zu ihm wäre ohnehin nicht die beste gewesen. Ich nahm es so hin, weil jeder anders trauerte und jeder Verluste anders auslebte. Das hatten wir in einer Gruppensitzung in einer Selbsthilfegruppe in der Kirche gelernt. Und ich fand das Motto gut, weil ich mir oft wünschte, andere würden sich mir gegenüber auch so verhalten: leben und leben lassen, trauern und trauern lassen.
Das Wetter hatte sich gebessert. Es war zwar kühl und der Tau fing an zu frieren, aber der düstere Regen hatte nachgelassen.
Wir gingen denselben Weg, wie vor einer Woche und ich wunderte mich, wieviel Zufall es brauchte um ihn kennenzulernen.
"An was denkst du?", fragte mich Samuel und ich starrte auf unsere Füße, die sich im Gleichschritt bewegten.
"Wie schicksalhaft unsere Begegnung ist". Unsicher sah ich hoch und blickte ihm in seine warmen Augen.
"Jeder Schritt, jedes Handeln ist schicksalhaft. Das eine führt zum anderen und das zum nächsten. Es ist wie eine riesige Dominokette, begonnen bei deiner Geburt. Nein, Blödsinn. Schon viel früher. Schon als sich deine Eltern kennengelernt haben. Nein, nein. Noch viel früher. Als deine Eltern, nein Großeltern, nein Urgroßeltern-". Ich unterbrach ihn mit einem leisen Lachen. Er war mittlerweile ganz außer Atem gekommen und musste mich auch angrinsen.
"Okay. Einigen wir uns einfach darauf, dass uns die Sterne gut gesinnt sind", schloss er seine Rede.

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