15.September

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"Weißt du, wenn du sie nicht kennst, verstehst du meinen Hass auf sie nicht. Aber diese Frau nervt dich mit jeder Zelle, sogar ihr Atem bringt mich auf die Palme. Und ihr scheiß Gelabber ist sowieso eine Frechheit. Was hat sie studiert? Gehirnwäsche?". Samuel sah mich belustigt von der Seite an, als ich wild gestikulierend von meinem nicht ganz so wunderbaren Termin erzählte.

"Ich kann sie mir sehr gut vorstellen. Am besten finde ich jedoch das Detail, dass ihre beiden Hosenbeine so wenig miteinander zu tun haben, wie Donald Trump und der Klimawandel". Seine Stimme klang wie immer unfassbar rauchig und tief und wurde von der Nachtluft förmlich aufgesogen. Er sah gut aus, wenn er mich ansah. Ich mochte den Blick.

"Eigentlich sollte sie mich auf morgen vorbereiten, aber ich habe jetzt noch mehr Panik als zuvor. Solltest du mich morgen wiedersehen, werden wir einen auf meine starken Nerven trinken". Er lachte. Ich lachte. Wir lachten.

"Kann ich dir etwas zeigen?". Ich rief mir die Zeit in Erinnerung und mir wurde bewusst, dass ich eigentlich schon längst zu Hause hätte sein sollen, wenn ich nicht aussehen wollte, wie die letzte Leiche morgen.

Doch Samuel schien seinen Beschluss schon längst gefasst zu haben und meine Antwortmöglichkeit war demnach entweder "ja" oder "ja". Ich entschied mich für letzteres.

Ich mochte die sommerlichen Temperaturen, den klaren Himmel und die Rauchwolken, die Samuel mit seiner Zigarette hinterließ. Der kleine, glühende Stummel, der vor seinem Mund baumelte, ließ mich seine Umrisse erahnen.

Sein T-Shirt war mindestens eine Nummer zu groß und seine Hose wurde nur mühsam mit einem Gürtel um seine schmalen Hüften gehalten. Hatte er abgenommen?

Fast schon ärgerte ich mich über meine Gedanken. Was ging es mich an, was hatte es mich zu beschäftigen? Ich kannte seinen Namen, seine Rauchgewohnheit, nämlich nie zu Ende rauchen und die Überreste nur in hohem Bogen wegzuschmeißen, während er dabei fluchte, wie kaputt ihn die Dinger machten und ich kannte den toten Stiefbruder seine Mutter, der somit nicht einmal der richtige Onkel von Samuel war. Aber ich kannte ihn nicht.

Ich wusste nicht wie er tickte, was er gerne machte, außer Leute in den unpassendsten Momenten zu finden und ab und zu mal drauf zu sein.

Und eigentlich wusste ich ziemlich viel. Ziemlich viel, für das, dass wir eigentlich nur Fremde waren.

"Was willst du mir zeigen?", hakte ich nach, nachdem ich ihn eingeholt hatte.

"Lass dich doch mal überraschen".

"Ich hasse Überraschungen".

"Wieso?".

"Weil die Leute nicht wissen was mir gefällt".

Er sah mich von der Seite an, streifte zufällig oder nicht zufällig, meinen nackten Oberarm. Samuel hatte eine weiche Haut.

"Ich weiß, was du magst. Vertrau mir".

Das letzte Mal als ich wem vertraut hatte, war diese Person ermordet worden. Meine Skepsis gegenüber Versprechen war folglich ein bisschen gestiegen.

Aber ich ging neben ihm her, versuchte mich überzeugen zu lassen und wurde doch wieder stutzig, als er vor einer Leiter haltmachte, die seitlich bei einem Haus hinaufging.

Das Gebäude sah verlassen aus, ein verlassenes Landhaus eben. Ich kannte es vom Vorbeifahren. Wenn meine Familie in den Urlaub gefahren war, nahmen wir immer diesen Weg und nicht den durch die Innenstadt. Kaum einer kannte ihn.

"Ich hoffe du hast keine Höhenangst".

Und wie ich Höhenangst hatte. Ich war mit Abstand der schlimmste Schisser, was all das angeht, was zwei Meter über dem Boden war. Aber seit mein Augenmerk darauf lag, nicht umgebracht zu werden, konnte ich mit Höhen einigermaßen gut umgehen.

Zeiten ändern sich und mit ihnen die Menschen.

Samuel zeigte es mir vor. Er kletterte über die Leiter, als hätte er es schon so oft getan, ohne auch nur einen Moment zu testen, ob das alles auch wirklich sicher war und grinste mich von oben an. Seine Hand, die er nach mir ausstreckte, lehnte ich ab und tat es ihm gleich.

Es war nicht besonders hier oben.

Man erkannte nichts, wegen der Dunkelheit und das Dach sah nicht gerade einladend aus.

Aber ich wollte Samuel nicht verletzen, weil er sich sicherlich etwas dabei gedacht hatte.

Ich nahm neben ihm am Rand Platz.

Nicht nach unten sehen, so hoch ist es doch gar nicht.

Meine Füße baumelten im Nichts, ich war umschlungen vom Nichts und trotzdem fühlte ich mich selten geborgen.

"Jetzt denkst du wahrscheinlich, ich sei ein Spinner und du bereust, dass du deinen Schlaf für das hier geopfert hast."

Und wie ich es bereute. Morgen oder besser gesagt heute, würde mir mein Schlafmangel leidtun.

"Aber warte erstmal zehn Minuten. Ich verspreche dir, du wirst mir die Füße küssen."

"Muss ich das wirklich? Ich finde Füße ekelig", antwortete ich lachend.

Samuel war immer so ruhig, aber gleichzeitig so ausdrucksstark. Jede seiner Bewegungen war gewollt, passend und niemals überflüssig. Er sagte nie zu viel, seine Worte so weise gewählt, dass es mir manchmal Angst machte. Samuel war eine Erscheinung. Er war wie der Windstoß im Hafen, er wehte dich um und gleichzeitig brachte er dir das Gefühl von Freiheit näher, wie ein Lagerfeuer, an dem man sich wärmen konnte, aber aufpassen musste, nicht zu verbrennen.

Und dann verstand ich die Magie dieses Ortes.

Der Himmel färbte sich rosa, lila, blau, dunkelbunt.

Es schien, als würden wir direkt in ein Universum schauen, als hätte der Himmel sich geöffnet. Ich holte tief Luft, atmete die warme Brise ein, meine Haare bewegt vom Wind.

Er blickte mich an, ich ihn, wir uns. Hätte mir vorher jemand gesagt, dass ich meinen Kopf an einen schlaksigen Fremden verlieren würde, hätte ich gelacht. Hätte mir jemand erzählt, dass man sich in einem Kuss verlieren konnte, hätte ich es mit den Worten schnulzig abgetan.

Aber es war unendlich.

Unendlich falsch, unendlich schön.

Der rauchige Geschmack, seine Hände auf meinem Körper, als würden sie schon immer dort ihren Platz haben. Er wirkte nicht zurückhaltend, nicht neu. Als hätten wir es schon immer getan und niemals damit aufgehört.

Ich drohte zu verbrennen, unter seinen Händen, aber es war mir egal.

Denn manchmal war verbrennen besser, als nichts zu spüren. Manchmal war dieser Schmerz, dieses Verlangen, diese Sehnsucht, alles was man je hatte, alles was einen lebendig machte.

Man konnte es niemals besitzen und dennoch gehörte es einem in diesen Momenten.

Ich fühlte mich lebendig, mein ganzer Körper war mit Adrenalin und Serotonin und mit all den anderen Hormonen vollgepumpt, die existierten.

"So geht es natürlich auch, wenn du Füße ekelig findest." Und dann setzte er wieder sein unfassbares Lächeln auf, als würde das hier normal sein.

Ist mir deutlich lieber und vielleicht bereue ich es gar nicht so, mitgegangen zu sein.

"Und ein Spinner bin ich auch nicht?".

"Doch. Der wirst du immer bleiben, Samuel. Egal wie oft und lange du mir den Atem raubst".

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