15. September

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Schweiß gebadet wachte ich auf. Es war bereits hell geworden und laut meinem Handy schon Mittag.

"Jasmin?", meine Mutter klopfte an die Tür. Ich setzte mich auf und zwang mich zu einem Lächeln.

Was war gestern nur passiert?

Der Versuch mich zu sammeln, scheiterte. Mein Blick fiel auf meinen Laptop, der noch immer blinkte, weil ich ihn nicht ausgeschalten hatte. Panik brach in mir aus, als würde der Mörder mich jederzeit aus dem Bildschirm heraus anspringen.

Blödsinn. Es konnte mir nichts passieren, er war vermutlich Kilometer weit entfernt von mir. Irgendwo, in einer Kleinstadt, in seinem dunklen Zimmer, ohne Familie, ohne Freunde und die Polizei suchte ihn doch bestimmt auch.

Er würde dafür bezahlen, das war in unserem Rechtstaat so.

"Du hast mir solch einen Schrecken eingejagt". Sie nahm an meinem Bettrand Platz, ihre Augenringe noch deutlicher ausgeprägt, als die letzten Wochen. In ihrer Hand hielt sie ein nasses Taschentuch.

"Es tut mir leid, ich brauchte Freiraum". Es tat mir wirklich leid. Sie musste sich unglaubliche Sorgen gemacht haben. Als sie so vor mir saß, hatte sie nichts von einer autoritären, selbstsicheren Frau Mitte vierzig. Sie sah alt und gebrechlich aus. Sie war gebrochen.

"Ich dachte, ich sehe dich nie wieder", vorsichtig streichelte sie meine Wange und ich nahm ihre Hand in meine.

Eleanor, sieh nur was du zurückgelassen hast.

"Wie auch immer. Die Direktion hat angerufen", sie stoppte kurz, um sicher zu gehen, dass ich ihr noch folgte.

"Ich werde hingehen", unterbrach ich. Samuel hatte mich davon überzeugt. Ich wollte nicht, dass die Schule gewohnt weiterging, ich wollte, dass sie fehlte.

"Deine Therapeutin meinte, du solltest sie noch einmal aufsuchen bevor du in dein altes Leben zurückkehrst. Es wird morgen sehr emotional für dich werden, du wirst sehr viel Druck spüren. Wir, dein Vater und ich, wollen nur sichergehen, dass du auch wirklich okay damit bist". Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie schüttelte kurz den Kopf, während sie versuchte weiter zu lächeln. Als wäre es etwas Schlimmes, dass sie sich nicht beherrschen konnte.

Altes Leben. Mein altes Leben war begraben und das schon so lange, dass jede Reanimation zu spät kam.

Ich war nicht mehr ich.

"Dein Termin ist in einer halben Stunde, ich kann dich fahren".

Es war das erste Mal, dass meine Mutter seit dem Vorfall Auto gefahren war. Sie hatte eine ziemlich Phasenbedingte Trauer entwickelt. Manchmal stand sie einfach nur Stunden am Fenster, blickte ins Leere und wirkte tot. An anderen Tagen schrie sie fürchterlich herum, wollte niemanden sehen und niemanden hören, besonders mich nicht. Ich erinnerte sie zu sehr an Eleanor, sagte sie dann immer und schickte mich weg. Es tat weh, denn ich konnte nun einmal nichts dafür. Noch nie hasste ich mein Aussehen so sehr, wie in diesen Momenten.

Aber an Tagen wie heute, schien alles in Richtung Normalität zugehen. Sie versuchte mich sehr aufmerksam zu behandeln, um das gut zu machen, was sie in manchen Wochen nicht schaffte. Man merkte, dass sie Schmerzen hatte, aber es gelang ihr, sie einigermaßen in den Griff zu bekommen.

Ich machte das Autoradio an.

"Du hast einen neuen Freund gefunden?". Meine Mutter fixierte ihren Blick weiterhin auf die Straße vor uns, wollte aber von mir eine Antwort hören. Ich kannte ihre Tonlage.

"Wie kannst du von ihm wissen? Ich habe ihn nie erwähnt", gab ich zurück.

"Schätzchen, ich bin deine Mutter, ich weiß alles. Tröstet er dich?".

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