Wenn man länger darüber nachdachte, wurde es nicht im Geringsten besser. Die Frage "Warum" schien mich aufzufressen, von Innen, ganz langsam, bis ich irgendwann nichts mehr war, als eine ausdruckslose Gestalt. Nur noch die, die ihre Schwester verloren hatte, deren Mutter beim Einkaufen nicht einmal mehr Blickkontakt mit der Kassiererin aufnahm und deren Vater in seinem Job immer mehr Kunden verlor, weil er ab und zu seine Aggressionen nicht unter Kontrolle hatte.
Ich hatte einen Stempel mit ihrem Tod aufgedruckt bekommen, die Leute sahen mich in ihr, weil wir uns doch dieselbe Hülle geteilt hatten.
In meinem Zimmer war es eng und kalt und es roch nach ihr. Alles erinnerte mich an sie, alles hatte sie in ihren Glanz gelegt. Ich wollte sie rausbekommen. Aus meinem Kopf, aus meiner Seele, aus meinem Spiegelbild. Ich wollte aufstehen und glücklich sein, aber ich konnte es nicht. Ich konnte mich nicht bewegen, nicht freuen, nicht leben.
Mit ihr wurde auch ich begraben.
Ich fuhr meinen PC hoch, der mein Zimmer in einen noch viel unangenehmeren Zustand brachte, mit der grässlich kühlen Beleuchtung.
Facebook. Ohne nachzusehen, wusste ich was mich erwarten würde. Jemand wie ich hatte nicht umsonst siebenhundert Nachrichten. Keine davon würde mich betreffen, sie gingen alle an Eleanor. Aber ich öffnete sie nicht. Es waren keine ehrlichen Nachrichten, sondern halbherzige Besserungswünsche und Rede-Angebote, von Möchte-gern-Therapeuten, die Eleanor nur einmal gesehen hatten. Ich hasste es, wie sich auf einmal die ganze Stadt als Eleanors Verwandten aufspielten. Niemand außer ihre Clique kannte sie, niemand. Manchmal zweifelte ich sogar daran, ob ich sie jemals wirklich gekannt habe.
Ob die nächtlichen Besuche Hilferufe waren, die ich nicht hörte. Ob dieses "Hilf mir" hinter der Kämpfer-Fassade versucht hatte auszubrechen, aber von ihrem Lächeln erstickt wurde.
Hätte ich ihr helfen können?
Ich fing an zu suchen.
Eine Seite, die Hilfe versprach und bei der man anonym mit anderen schreiben konnte, wurde mir angezeigt.
Meine Therapeutin hatte mir von diesen Seiten abgeraten, weil sie einen noch mehr runterziehen sollten, aber ich konnte mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wohin dieses runter gehen sollte. Dafür müsste sich schon der Boden auftun, damit ich noch tiefer fallen könnte.
Benutzer33, schien mir ein passender Name zu sein.
Die Kreativität hatte definitiv meine Schwester im Bauch mir weggenommen.
Es dauerte nicht lange, bis mir eine Person vorgeschlagen wurde. Kreativitätsmäßig schienen wir auf einer Wellenlänge zu sein.
Benutzer2508.
Wie fing man einen Chat unter diesen Umständen an?
Hey, wie gehts dir? Meine Schwester wurde ermordet und bei dir? Alles fit im Schritt? Ja, nur meine Mutter ist gestern abgekratzt.
Etwas charmanter wäre kein Fehler. Doch mein Gegenüber hatte wohl weniger Zweifel, denn es wagte den ersten Schritt.
Guten Abend.
"Guten Abend" klang verdammt alt und überhaupt nicht traurig.
Es klang eher nach einem alten, verlassenen Poeten, der früher nur den teuren Rot-Wein getrunken hatte und mittlerweile den aus dem Tetra-Pack wählen musste, weil sein unermesslicher Alkoholkonsum sowohl ihn, als auch seinen Geldbeutel in den Ruin getrieben hatte.
Also doch eigentlich ziemlich traurig.
Aber da es im Endeffekt doch nur ein "Guten Abend" war und er vielleicht einfach um einiges charmanter und indirekter als ich war, antwortete ich.
Hey.
Würde jetzt gleich die Eröffnung in unser Leben kommen? Würden wir gleich unsere dunkelsten Seiten offenbaren und bis tief in die Nacht über Was wäre wenn-Situationen reden, bis wir vereint vom Schicksal einschliefen?
Dramatisch, melancholisch, hoffnungslos.
Wie geht es dir?
Oder wir führen stumpfen Smalltalk.
Ich denke mal, die richtige Antwort ist, nicht sonderlich, sonst wäre ich nicht hier. Obwohl ich die ein oder andere schräge Angewohnheit habe, gehört auf Kummer-Seiten ohne Grund abzuhängen, nicht dazu.
Entschuldige, unüberlegte Frage meinerseits, aber ich war mir nicht sicher, in welche Kategorie diese Konversation einzuordnen wäre. Normales SMS-Gespräch (welches aber schon alleine von der Tatsache, dass das hier nicht einmal SMS sind, überhaupt nicht normal wäre) oder ein tiefgründiger Austausch, zwischen zwei verlorenen Seelen, die ihren letzten Grashalm in einer Internetseite, die vielleicht nicht einmal seriös ist, finden.
Eindeutig der verlassene Poet mit dem billigen Wein.
Können wir es auf eine Mittelstufe bringen? Eine gewöhnliche SMS-Konversation brauche ich genauso wenig wie ein Psychologisches-Gesülze. Vielleicht sollten wir abklären, wieso wir hier sind, um festzustellen, ob es neben unserer unglaublichen Kreativität, die wir in unsere Benutzernamen gesteckt haben, auch noch andere Gemeinsamkeiten gibt.
Mittelstufe klingt gut. Wie genau erkundige ich mich nicht zu direkt nach dem Grund für dein Dasein? Ich gehe mal davon aus, dass wir darüber reden sollten und uns einzureden versuchen, dass geteiltes Leid halbes Leid ist und nicht doppeltes, weil jetzt auch noch die Sorgen eines Unbekannten in unseren Hinterköpfen herumschwirren.
Sollte ich ihm einfach so erzählen, was passiert war? Es fühlte sich falsch an, es einfach zu schreiben, einfach in Worte zu fassen, was passiert war. Denn es war nicht einfach. Nichts an dieser ganzen Situation war einfach oder auch nur irgendetwas in diese Richtung.
Ich wollte es nicht schreiben.
Meine beste Freundin hat Selbstmord begangen, weil sie aus ihrer Essstörung nicht mehr herausgekommen ist. Ich konnte sie nicht abhalten, ich konnte nichts tun, ich war hilflos. Aber trotzdem frage ich mich, ob ich nicht doch zu wenig gemacht habe.
Jetzt hatte ich nicht nur eine tote Schwester, sondern auch noch eine imaginäre, tote beste Freundin.
Selbstmord ist für manche eben einfach die einzige Lösung. Menschen, die sich nie in dieser Situation befunden haben, können sich nicht hineinversetzen, finden es egoistisch. Aber sie handeln nur einmal in ihrem Leben egoistisch und das gibt ihnen eine gewisse Stärke. Es tut mir leid, was mit deiner Freundin passiert ist, aber ich denke nicht, dass du mehr machen hättest können.
Die Antwort beruhigte mich. Auch wenn sie nicht einmal annähernd zutraf, war es schön zu hören, dass ich nicht schuld war. Dass ich nichts verhindern und nichts ändern konnte.
Ich bin kein Narzisst, also erklär mir deinen Grund.
Meine Anwesenheit hier ist wahrscheinlich nicht gerade so begründet, wie du dir vorstellst. Ich habe nicht unbedingt die Opferrolle in meinem Grund übernommen, sondern stehe dem gegenüber. Solltest du den Chat hier abbrechen wollen, wünsche ich dir noch einen schönen Abend.
Mein Herz begann zu pochen. Was meinte er damit? Wie konnte er nicht in der Opferrolle sein? Ich spürte wie mein ganzer Körper weh tat.
Ich kann mir darunter beim besten Willen nicht viel vorstellen. Ob ich den Chat abbreche, werde ich hinterher entscheiden.
Im Endeffekt habe ich genauso gehandelt wie deine beste Freundin. Ich hatte es satt, mein Leben war an einem Nullpunkt, alle Emotionen in mir einfach weggeblasen. In meinem Rausch von Egoismus und ungestillter Rache, habe ich ein Mädchen für immer zum Schweigen gebracht.
Um mich herum wurde es laut, mein Bauch krampfte sich zusammen. Alles drehte sich. Mein Mund wollte sich öffnen, ich wollte um Hilfe schreien, aber ich konnte nicht.
Ich habe ein Mädchen für immer zum Schweigen gebracht.
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Aeternum
Teen Fiction"Der Tod ist eine von vielen Ewigkeiten, die man kaum ertragen kann. Das Sterben ist nicht so grässlich, wie das Vakuum in dem du dich befindest, nachdem eine Person von dir gegangen ist." Er war von ihrer Schönheit überrumpelt und es tat ihm so ung...