Heute war ein Tag, vor dem wir uns alle zu gerne gedrückt hätten. Die Stimmung zu Hause sank unter den Nullpunkt. Frühstück ließen wir alle aus und gesprochen wurde nichts. Mein Vater und ich wurden auf die Polizeiwache gebeten, um einige Umstände zu klären.
Meine Mutter konnte nicht mitgehen. Sie konnte keine Fragen zu dem Mord beantworten, konnte sich nicht einmal in die Nähe des Präsidiums bewegen. Mit der Bestätigung ihrer Psychologin durfte sie diesen ätzenden Termin ausfallen lassen.
Mein Dad und ich gingen hin.
Wir wurden von zwei netten jungen Polizisten empfangen, der eine nahm mich mit in einen Raum, der andere meinen Vater. Sie schwafelten irgendetwas von getrenntem Verhör, weil dann unsere Aussagen besser verglichen werden konnten.
"Miss Steinfeld", fing der Beamte vor mir an und ich setzte mich gegenüber auf einen einfachen Plastikstuhl, der genauso unbequem war, wie die Atmosphäre. Das Zimmer war abgedunkelt, die Jalousien warfen unnatürliche Schatten und die Zimmerpflanze im Eck schien bald die aller letzte Photosynthese ihres Lebens betrieben zu haben.
Ich überkreuzte meine Beine und versuchte ruhig zu atmen.
Meine Augenringe mussten tiefer als der Mariannengraben sein und generell mein Zustand war nicht in bester Form.
"Wie Sie wahrscheinlich wissen, geht es um den Mord an Ihrer Zwillingsschwester."
Stille.
Mord an Ihrer Zwillingsschwester.
Die vier Worte breiteten sich im Raum aus, wie eine Welle, die immer und immer größer wurde und irgendwann zusammenbrach. Sie krochen in jeden Winkel und in jede Ritze, es gab kein Entkommen. Man musste sie hören.
"Am fünfundzwanzigsten August wurde Eleanor Steinfeld mit tödlichen Verletzungen in ihrer Bauchdecke und Würgewunden an ihrem Hals, Nähe einer Seitengasse, aufgefunden."
Ich spürte die Welle ganz deutlich. Sie würde gleich brechen, über mir, mich ersticken und für immer verschlingen. Es gab keine Wahl, ich saß hier und es wurde mir alles so schrecklich trocken erzählt, als wäre es nur eine Geschichte, die sich irgendjemand an einem dunklen Tag ausgedacht hatte.
Gerne hätte ich mich verkrochen, in ein Eck gesetzt und meine Ohren zugehalten. Ich wollte es nicht hören, ich wollte es nicht ausgesprochen haben, ich wollte es einfach nur ganz weit vor mir herschieben.
"Dadurch war sehr schnell auszuschließen, dass es sich um einen natürlichen Tod handelte. Nachdem die Beweislage sich als weitaus schwieriger erwiesen hat, als angenommen, würde ich Sie bitten, mir folgende Fragen wahrheitsgetreu zu beantworten und natürlich mit dem besten Gewissen, uns zu unterstützen und Klarheit in dem Fall zu bekommen. "
Ich nickte.
Wie schmerzhaft und verletzt ich in dem Moment war, konnte ich nicht beschreiben. Die Polizei schloss mich nicht aus. Ich war Angehörige und Verdächtigte. Verdächtigt, an dem Mord meiner eigenen Schwester. Wir waren von Grund auf verschieden und trotzdem teilten wir alles miteinander. Wo war sie jetzt. Ich brauchte sie.
"Wo befanden Sie sich an diesem Tag im Zeitraum zwischen zwölf und vier Uhr morgens?." Er schnippte mit seinem Kugelschreiber auf seinem Brett herum und erinnerte mich dabei viel zu sehr an meine verhasste Therapeutin.
War es ein Zeichen von Intelligenz, wenn man dies machte oder war es einfach nur ein Vorwand, um ein bisschen nachdenklicher und professioneller zu wirken?
Egal welche Absicht dahinter steckte, bei mir kam sie absolut nicht an.
"Ich bin in meinem Bett gelegen und habe geschlafen, weil am nächsten Tag eine Familienwanderung angestanden ist und ich sowieso in den letzten Tagen schlecht geschlafen habe."
"Wieso haben Sie schlecht geschlafen?".
"Wegen der Hitze, mein Ventilator ist kaputtgegangen und ich kann bei zu heißen Temperaturen einfach kein Auge zu machen."
Erste Notlüge. Einen Ventilator hatte ich noch nie besessen und zu heiß war es sicherlich nicht gewesen, da ich ein Zimmer hatte, dass untertags ziemlich geschützt vor der Sonne war.
"Wann haben Sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen?".
Um halb zwölf, als sie mein Zimmer verließ. Als sie sich komisch verhalten hatte, als sie mir gesagt hatte, wie gern sie mich hatte und ihr alles schrecklich leidtäte. Eleanor wusste, dass sie sterben musste und trotzdem war sie gegangen.
Dieser Moment war im Nachhinein der Intimste-Moment den wir je geteilt hatten. Als sie an meinem Bettrand saß, erleuchtet von dem Mond, der durch meine Zimmertür fiel, gehüllt in ihren schwarzen Kapuzenpulli, die Haare nicht richtig frisiert.
Aber egal wie rätselhaft der Tod von ihr auch war und wie sehr ich den Menschen, der ihr das angetan hatte auch hasste, ich konnte dem Polizisten davon nichts erzählen. Es wäre, als würde ich mich vor ihm ausziehen, als würde ich nackt durch die Straßen rennen.
"Um zehn. Wir haben noch einen Film gesehen", log ich deswegen.
"Was für einen Film?". Er sah mich skeptisch an und kaute an dem Ende seines Stiftes herum.
Das wirkte nun wirklich nicht mehr intellektuell.
Seine Uniform war unglaublich schön gebügelt und ich fragte mich, ob seine Mutter oder seine Frau das getan hatte. Für eine Frau kam er mir jedoch etwas zu jung vor, er war vielleicht sechs Jahre älter als ich.
"Titanic. Ihr Lieblingsfilm". Innerlich hoffte ich, dass Eleanor dies nicht gehört hatte, denn sie würde wahrscheinlich alle möglichen Sachen nach mir werfen und sich auf ihrer Wolke wohl oder übel übergeben müssen. Sie hasste Titanic und alle Filme, die auch nur annähernd eine romantische Ader besaßen.
"Wann haben Sie mit dem Film begonnen?".
"Viertel nach Acht."
"Der Film dauert aber mehrere Stunden laut meines Wissens."
"Wir haben den Anfang übersprungen, da wir den nicht als wichtig empfanden", konterte ich.
Der Polizist nickte erneut.
"Und was haben Sie nach dem Filmschluss gemacht?".
"Ich habe mich fertiggemacht und bin ins Bett gegangen, wie Eleanor auch". Dieser Teil war nicht gelogen. Zumindest nicht ganz.
Die Fragerei ging noch eine ganze Weile so weiter und ich musste immer öfter ein paar Lügen einbauen, die ich mir versuchte, so gut wie möglich einzuprägen, dann stand er auf, reichte mir die Hand und führte mich hinaus, wo mein Dad mit seinem Sakko auf mich wartete.
Er wirkte alt und grau und leblos.
Mein Dad war immer ein Mann mit großer Klasse gewesen, ein Gentleman noch vom alten Schlag, erfolgreicher Geschäftsmann. Wir waren eine Bilderbuchfamilie gewesen. Meine Mutter Immobilienmaklern, heiratete meinen Dad noch bevor sie die dreißig angekratzt hatte und zusammen gründeten sie eine richtige Familie. Mit uns zwei war das Glück perfekt, das haben sie uns immer gesagt. An Weihnachten oder zu unseren Geburtstagen.
"Ich hoffe doch Sie haben meiner Tochter keine Bilder gezeigt", meinte er an den jungen Polizisten gewandt, während er seine Hand schützend auf meinen Rücken legte.
"Welche Bilder?", hakte ich nach, war mir der Antwort aber schon selbst bewusst und innerlich sehr froh, dass mir diese erspart wurden.
Was mein Dad durchmachen musste, während er sich die Leiche seiner eigenen Tochter entstellt und verwüstet, auf einem Bild ansehen musste, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Meine Vorstellungskraft war nicht einmal im Stande, mir ein Bild von Eleanors Körper zu machen.
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Aeternum
Teen Fiction"Der Tod ist eine von vielen Ewigkeiten, die man kaum ertragen kann. Das Sterben ist nicht so grässlich, wie das Vakuum in dem du dich befindest, nachdem eine Person von dir gegangen ist." Er war von ihrer Schönheit überrumpelt und es tat ihm so ung...