Willkommen in meiner Welt

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Der Weg vom Friedhof zu unserem Haus war nicht sonderlich weit. Generell lag in meinem Heimatort, dem Indianerreservat La Push, in der Nähe von Forks, Washington, alles ziemlich nah beieinander. Wir hatten eine Schule, ein kleines Krankenhaus, eine eigene Verwaltung und diverse Läden, in denen man eigentlich alles bekam, was man zum Leben brauchte. Theoretisch könnte man hier sein ganzes Leben verbringen, ohne es jemals zu verlassen. Und es würde mich nicht wundern, wenn einige der älteren Quileute – das war der Name unseres Stammes und so nannte man auch dessen Mitglieder – tatsächlich so zu leben pflegten. Aber für mich war das nichts. Ich war froh, dass ich auch mal etwas anderes sah. Dieses „Andere“ war zwar nur Forks, aber immerhin.

Kaum hatte ich unser Haus betreten, hörte ich schon die Stimmen meiner Geschwister aus der Küche. Ich war die Jüngste von Dreien. Meine Schwester Madeleine war gerade im Begriff meiner Mutter nachzueifern. Sie wollte Lehrerin an der Reservatsschule werden und verbrachte daher ziemlich viel Zeit mit ihr. Mein Bruder Harry dagegen hatte erst frisch seinen Abschluss gemacht. Sein Wunsch war es, eines Tages Stammesoberhaupt zu werden, aber es würde sicher noch eine Weile dauern, bis er Embry, der nach Vaters Tod diesen Platz übernommen hatte, würde ersetzen können.

„Hey Zwerg“, begrüßte meine Schwester mich, als ich mich ihr gegenüber auf den hölzernen Stuhl an den Esstisch setzte. Ich sah sie etwas missmutig an. Ich hasste diesen Kosenamen.
„Wie wäre es, wenn ich dich in Zukunft 'Made' nennen würde? Würde dir das gefallen?“, konterte ich.
„Unsinn“, warf Mum ein und stellte jedem von uns einen leeren Teller hin. „Schluss mit den albernen Kosenamen. Ich habe euch keine schönen Namen gegeben, damit ihr sie dann nicht benutzt oder abkürzt.“
„Madeleine, du weißt doch, dass unsere kleine Schwester jetzt mit 'Bills' angesprochen werden möchte. Das ist cool und hipp“, neckte mein Bruder und setzte sich ebenfalls hin.
Ich brummte. Mein Name war Billy-Sue. Ursprünglich sollte ich nur Sue heißen, aber mein Vater starb nur einen Tag vor meiner Geburt und so wurde die Kurzform für William Teil meines Namens. Es war die einzige Verbindung, die ich zu ihm hatte, abgesehen von meinen smaragdgrünen Augen. Ich beneidete meine Geschwister darum, dass sie ihn hatten kennenlernen dürfen. Dass sie sogar mehrere Jahre mit ihm verbracht hatten und ich nicht. Trotzdem oder gerade deswegen, versuchte ich ihm so nah wie möglich zu sein. Ich besuchte fast täglich sein Grab und trug ein Foto von ihm in meiner Brieftasche mit mir herum, während ein weiteres unter meinem Kopfkissen lag.

„Und wie war dein Tag, mein Schatz?“, fragte Mum, während sie mir eine Portion Nudeln auf den Teller legte.
„Gut. Ich habe ein B in der Mathematikklausur.“
„Sehr schön“, antwortete sie.
„Mum“, sagte Madeleine plötzlich. „Kann ich morgen für ein paar Stunden in deinem Unterricht sitzen?“
„Kannst du schon. Aber etwas Besonderes habe ich morgen mit meiner Klasse eigentlich nicht vor.“
„Das ist egal“, antwortete meine Schwester. „Es geht mehr um allgemeine Notizen.“
„Na dann gerne“, sagte Mum und lächelte.
Harry seufzte und meine Mutter wand sich an ihn. „Was?“
„Ach nichts.“
„Spuck‘s aus.“
„Nein, Mum. Das Thema würde dir nicht gefallen.“
„Warum nicht?“
„Weil... ach... nichts.“
„Harry“, mahnte sie. „Ihr wisst doch, ihr könnt mit mir über alles reden. Es gibt kein Thema, das mir nicht gefällt. Nun sag schon.“
Er seufzte erneut. „Embry ist seit drei Tagen unerträglich.“
Madeleine kicherte.
„Wie meinst du das?“, wollte Mum wissen.
„Er ist geprägt worden.“
Mutter flog sogleich die Nudel von der Gabel. „Was?“
Ich starrte die Nudel an, wie sie da nun im Teller lag. Währenddessen sah ich im Augenwinkel, wie sich Mums Mund zu einem Lächeln formte. „Endlich“, hauchte sie, dann stand sie plötzlich auf und schob dabei den Tisch ein Stück von sich. „Wie alt ist sie? Wo ist es passiert? Du musst mir alles sagen, was du weißt!“
Jetzt sahen wir alle perplex drein. Bisher hatten wir immer gedacht, das Thema Prägung gefiele ihr nicht, weil sie durch diese Verbindung zu unserem Vater sicherlich noch mehr hatte leiden müssen, als es ein normaler, liebender Mensch wahrscheinlich getan hätte. Vielleicht war der Unterschied aber auch gar nicht so groß? Ich wusste nicht sonderlich viel darüber...
„Er war vor drei Tagen auf irgendeinem Ausflug in Seattle. Da hat er sie dann zufällig gesehen. Sie ist dreißig und Single. Na ja, noch Single.“
„Embry ist sicher nervös, weil er nicht weiß, ob sie sich in ihn verlieben wird.“
„Hat sie denn eine Wahl?“, fragte Madeleine.
„Hat sie. Als ich euren Vater kennenlernte, war er noch sehr jung. Er konnte nicht sprechen und ich wusste nicht, dass er sich auch auf mich geprägt hatte. Glücklicherweise hatte er das. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre es mir wie Jacob gegangen. Er hat mir mal erzählt wie es war, als Renesmee sich für einen anderen Jungen interessiert hatte. Die Person auf die man geprägt ist, hat immer die Wahl. In den meisten Fällen ist es nur so, dass man dem Werben eines geprägten Wolfes kaum widerstehen kann.“
„Dann ist er deswegen so durch den Wind?“, fragte Harry.
„Er hat sein ganzes Leben auf sie gewartet. Er hat sich immer verwandelt, aus Angst irgendwann zu alt für sie zu sein.“
„Ich finde diese Prägungssache ziemlich mies“, sagte ich dann.
Mutter sah mich fragend an.
„Na ja“, suchte ich nach Worten. „Du musst dein Leben lang hoffen, dass du diese Person irgendwann triffst. Vielleicht wartest du vergebens oder triffst sie einfach nicht und sie stirbt dir weg, während du ihretwegen nicht alterst. Oder aber du triffst sie und sie mag dich nicht. Oder was ist, wenn man die Person nicht mag oder sie hässlich findet?“
Mum lachte. „Das ist nicht möglich. Die Person, auf die man geprägt ist, kann man nicht hässlich finden. Sie ist der tollste Mensch auf der Welt. Euer Vater war der tollste Mensch auf der Welt.“
Als sie über ihn sprach sah ich, wie ihr ganz warm ums Herz wurde und spürte die Wärme auch in mir. Daddy.
„Wie auch immer“, sammelte sie sich dann wieder. „Esst bevor es kalt wird.“

Die Twilight Saga: Equinox (Fanfiction // #Wattys2015)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt