Aller Anfang ist schwer

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Achtung: ab etwa der Mitte des Kapitels findet ein Sichtwechsel statt.

Vogelgezwitscher war das Erste, was ich hörte, und die warmen Sonnenstrahlen das Erste, was ich spürte, als ich an diesem Morgen die Augen aufschlug. Das Erste, was mir jedoch in den Sinn kam, kaum dass sich meine Lider ganz geöffnet hatten, war, was für ein Tag heute war: heute würde ich mit meinem Training beginnen. Heute war der erste Tag meiner 'Gestaltwandlerlehre', wie Seth es spielerisch genannt hatte. Aber das war kein Spiel. Das war leider todernst.

Und genau deshalb war mir momentan mehr mulmig zumute, als dass ich mich hätte darüber freuen können. Was wenn ich total versagte? Wenn ich ein hoffnungsloser Fall war? Wenn ich nie lernen würde, mich zu beherrschen und immerzu als verwirrter, flugunfähiger Vogel durch die Gegend hüpfte?


Ich musste unweigerlich an den gestrigen Tag denken. Ich war gerade mit Nayeli in meinem Zimmer in ein Gespräch über ihr Leben als Halbvampir vertieft gewesen, als Nayeli den schwarzen BMW gehört hatte, lange bevor er überhaupt in Sichtweite gewesen war und ich ihn als solchen erkannte.
„Sangreal und Anthony“, hatte sie gesagt und dann hatte sie meine Hand gepackt und mich in Richtung Flur gezogen. Keine Sekunde hatte ich wirklich daran gezweifelt, dass sie Recht hatte, dennoch hatte ich mir jedoch insgeheim gewünscht, sie hätte sich geirrt.

Ich hatte gerade angefangen, mich an all das zu gewöhnen. Die Tage waren so herrlich ruhig gewesen. Ich konnte schlafen, so lange ich wollte, ich konnte tun, was ich wollte. Reden, spazieren, gemeinsam mit Nayeli kochen. Nun würde ich jeden Tag üben müssen und Erwartungen erfüllen. Es war nicht so, als wäre das etwas Neues für mich. Ich war zwar nicht auf die Schule gegangen, an der meine Mutter unterrichtet hatte, dennoch hatte sie natürlich gute Leistungen von mir erwartet. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie das auch jetzt tat. Und sicherlich nicht nur sie. Ich kam aus einer Familie talentierter Gestaltwandler. Opa Jacob war der Erste seiner Generation gewesen, so hatte Mum es mir erzählt, der sich aus dem Sprung heraus verwandeln und punktgenau landen konnte – und währenddessen hatte er sich auch noch seine Shorts an den Hinterlauf gebunden. Onkel Seth hingegen war der jüngste Gestaltwandler, der jemals an einer Schlacht teilgenommen hatte und Mum war die schnellste Wölfin ihres Rudels. Und was war ich momentan?
Ich war die frischgebackene, halbwaise Gestaltwandlerin, die sich vor Schreck auf ihrem Schuldach in einen Vogel verwandelt hatte und danach nackt im Garten ihrer Großcousine gelandet war, um ihr die Wäsche von der Leine zu klauen.

Ich hatte, schon bevor ich die letzte Stufe der Treppe ins Erdgeschoss erreichte, kaum gedacht, dass meine Selbstzweifel je hätten größer sein können. Ich wurde eines besseren belehrt, als ich meinem Onkel dann zum ersten Mal gegenüber stand.

„Hallo Billy-Sue“, begrüßte er mich und beugte sich dazu etwas herab. Er war ziemlich groß, größer als Onkel Seth und vielleicht sogar ein bisschen größer als Opa Jake. Seine Augen waren von demselben Grün, wie Dads und meine Augen. Seine helle Haut bildete einen starken Kontrast zu seinem schwarzen Haar, dessen Pony ihm auf einer Seite übers Auge fiel und er trug ebenso dunkle Kleidung. Wäre er nicht mein Onkel und wäre ich ihm irgendwann in der Fußgängerzone über den Weg gelaufen, ich hätte mich sicher zweimal für ihn umgedreht. Ich musste schlucken, dann presste ich gerade noch so ein leises „Hi“ hervor und war stolz auf mich, überhaupt irgendetwas herausgebracht zu haben.

Wie sollte ich dieses Training nur überstehen, ohne mich in Grund und Boden zu schämen?
„Du bist so groß geworden“, sagte er. „Das letzte Mal, als ich dich gesehen hatte, warst du noch ganz klein.“ Wirklich? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Gut, wahrscheinlich war ich dafür tatsächlich zu klein gewesen.
Sangreal stellte sich nun neben ihn und schlang ihre Arme um seinen Oberam. „Hallo, Billy-Sue“, begrüßte auch sie mich. Sie hatte langes, glattes, braunes Haar mit einem geraden Pony und graue Augen. Als Luna dazu kam, wurde mir die Ähnlichkeit erst so richtig bewusst. Sie lächelte sogar leicht. „Wollen wir dann hoch?“, fragte sie in die Runde. „Der Tisch ist schon gedeckt.“
„Ja, Süße“, antwortete ihre Mutter. „Lass uns doch erst mal ankommen.“
Dann gingen die drei nach oben. Nayeli und ich blieben zurück.
„Möchtest du nicht mit gehen?“, fragte ich verwundert.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Schon okay. Luna soll ihre Eltern erst mal ganz für sich haben.“
Ich runzelte die Stirn. „Wie lange waren die beiden denn weg?“

Die Twilight Saga: Equinox (Fanfiction // #Wattys2015)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt