Kap. 1: kleiner Auszug aus meinem Leben

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Rückblick:

Ich war sechs Jahre alt, als unsere Eltern auf die Idee kamen, nach Kanada zu ziehen. Mein Bruder war zu dem Zeitpunkt acht Jahre alt und machte eine schwierige Phase durch. Ich erinnere mich an den Streit zwischen Mark und unseren Eltern, als wäre er gestern gewesen. Mark wollte unsere Heimat nicht verlassen, aber Papa hatte eine neue Stelle in seinem Betrieb angeboten bekommen. Im Endeffekt hatten wir Kinder kein großes Mitspracherecht und Papa hatte der Versetzung in den Betrieb nach Kanada bereits zugestimmt. Meine Mutter ging wohl einfach davon aus, ein Ortswechsel würde meinem Bruder helfen wieder ruhiger zu werden. Mein Bruder Mark ist der Sturkopf der Familie und ich, ich bin die liebe kleine Mia. Obwohl wir so verschieden sind, ist das Verhältnis zwischen Mark und mir schon immer einfach super gewesen. Er liebte mich abgöttisch und ich ihn umso mehr. Wenn ich zu Jemandem aufblicke, dann zu meinem großen Bruder, der mich immer beschützen würde.

Der Umzug kam schließlich schneller als erwartet und Mark und ich waren auf dem Weg in eine neue Heimat und ein neues Leben. Im Stillen wusste ich schon damals, dass Mark den Umzug nicht so schlimm fand, wie er unseren Eltern glauben machte. Das Verlassen seiner falschen Freunde konnte ihm schlecht schwer fallen und auch er war sein streitlustiges Verhalten langsam satt. Er gab es nur noch nicht zu. Mama und Papa gaben uns Kindern all die Liebe, die wir brauchten und gingen meist verständnisvoll mit der späten Trotzphase ihres Sohnes um. Der Umzug kam genau zur richtigen Zeit. Wir wussten es zwar noch nicht, aber auch der Ort war perfekt für die Familie Baker.

In Kanada war zuerst alles ziemlich chaotisch. Papa war schnell in den Betrieb für Schiffs- und Flugzeugmotoren eingegliedert worden und Mama versuchte letzte Arbeiten am Haus fertig zu stellen, bevor sie in einem kleinen Buchladen um die Ecke anfangen würde. Da mein Bruder und ich uns hier nicht auskannten und zudem zu jung waren, um alleine raus zu gehen, blieben wir bis zu Schulbeginn im Haus. Ich würde für die Wochen bis zu meiner eigenen Einschulung zu Hause bleiben und nicht den Kindergarten besuchen. Wir hatten also nicht viel zu tun und dachten uns allerlei Spiele aus. Auch zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, was auf uns zu kommt. Papa war glücklich in seiner neuen Stelle und Mama freute sich ebenfalls auf ihre Arbeit. Wir Kinder waren einfach Kinder und nahmen die neue Situation weniger bewusst war. Mit der Sprache hatten wir keine Probleme. Unsere Mutter ist Britin, wir haben aber in Deutschland gelebt.

Mein Bruder hatte seinen ersten Schultag. Mama und Papa waren aufgeregter als Mark. Ich wollte einfach nur bei meinem Bruder bleiben. Was sollte ich denn tun, wenn Mark jetzt den Vormittag in der Schule verbringen würde. Das sind für eine sechsjährige große Sorgen. Jedenfalls fuhr Papa ihn zur Schule und ich weinte, als ob ich Mark nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Meine Mutter sagte mir damals: Mia liebes, sei doch nicht traurig. Schon bald wirst du auf die selbe Schule gehen wie dein Bruder. Tatsächlich halfen mir diese Worte. Eine sechsjährige ist erschreckend leicht zufrieden zu stellen. Es konnte noch nicht viel Zeit vergangen sein, da rief Marks neue Schule an. Sofort schnappte meine Mutter sich mich und ihre Autoschlüssel und schon waren wir durch die Tür. Begreifen konnte ich es damals natürlich nicht. In der Schule dann wurde ich nur so von Eindrücken erschlagen. Ich kam mir so winzig vor und guckte mir alles ganz genau an. Leider wurde unser Weg auf den Flur beschränkt. Die Räume hinter den verschlossenen Türen machten mich total neugierig. Als wir jedoch auf zwei Jungen zuliefen, die sich angrinsten und sich die Gesichter kühlten, blieb mir vermutlich der Mund offen stehen. Meinem Bruder lief Blut aus der Nase und der Junge neben ihm hielt sich seinen Kiefer. Meine Mutter bekam damals fast einen Herzinfarkt und stürmte einfach in das Büro des Schulleiters und ließ mich bei Mark zurück. Ich erinnere mich, wie absurd die Situation war. Natürlich war ich fasziniert von dem Blut und der schon leicht verfärbten Haut. Ich sagte den beiden Jungen, dass ich auch gerne so etwas im Gesicht hätte und im nächsten Moment verliebte ich mich unsterblich. Der Junge neben meinem Bruder war etwa gleich alt und sah mich mit braunen Augen schockiert an. Männer schlagen keine Mädchen, war der Satz, der mich sofort mein Herz verschenken ließ. Als Mama wieder zu uns kam, erinnere ich mich nur noch daran, wie Mark verkündete, dass Carter Johnson ab sofort und für immer sein bester Freund sein würde. Und so kam es auch. Wie es der Zufall so wollte, wohnte Carter in der Nachbarschaft und meine Mutter arbeitete in dem Buchladen von Carters Mutter. Die zwei Frauen verstanden sich gut und waren froh, dass ihre Söhne endlich einen Freund gefunden hatten und ihre Energie dem Eishockey widmeten. Ich fand mich schließlich damit ab, dass mein Bruder seine Zeit nicht mehr mir opferte und schwärmte heimlich für Carter.

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