Tantrum
1Die beiden Frauen hatten gerade ihr Mittagessen beendet, als die Uhr auf dem Kirchturm die volle Stunde erreichte. Eve, die deutlich Jüngere, sah mit Bedauern auf die Gruppe junger Menschen, die durch ein großes Tor den gepflegten Campus verließen. Sie wirkten überwiegend unbeschwert und fröhlich, ganz so, wie es sein sollte. Nur nicht für Eve.
Dass das nicht immer so gewesen war, wurde ihr besonders in Augenblicken wie diesen bewusst, wenn sie sich gezwungen sah, von den Menschen in ihrer Nähe Abstand zu nehmen. Nicht von allen, und nicht etwa, weil sie es so wollte, sondern weil sie es für das Beste hielt, um keinen Schaden anzurichten.
Gemeinsam mit ihrem ehemaligen Kindermädchen Murna, die in Wirklichkeit Maurin hieß, saß sie in dem kleinen gemütlichen Café auf der anderen Straßenseite. Hier gab es die besten Snacks, außerdem bot das Ashford Café einen hervorragenden Blick rüber zum Campus, wo sich das Leben abspielte. Mit ihren neunzehn Jahren war Eve eine Außenseiterin, die nirgendwo so richtig dazugehörte. Vielleicht aber passte das normale Leben auch einfach nicht zu ihr, wie Murna immer zu sagen pflegte.
Eve nahm den letzten Schluck ihres Cappuccinos und schleckte mit der Zunge den Rest Milchschaum vom Tassenrand.
„Sind wir heute wieder vornehm", bemerkte Murna schroff, dabei hätte Eve schwören können, sie hatte in die andere Richtung geschaut. Murnas stahlgraue Augen waren einfach überall.
Eve grinste wie auf frischer Tat ertappt, doch Murna hatte wieder diesen Blick aufgesetzt, der Weisheit und Güte ausstrahlte, wie Eve es noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Obwohl sie den Eindruck erweckte, sie würde keiner Fliege etwas zuleide tun können, hatte sie keine Skrupel, Eve richtig die Meinung zu sagen, wenn es sein musste.
„Es ist wie ein Fluch, Murna. Ich steh total auf dieses Zeug."
„Eve Roberts. Lass dieses unsinnige Gerede über Flüche – du bist dem Tod von der Schippe gesprungen, weil es so sein sollte." Sie sagte es in einem abwertenden Ton, wie fast immer, wenn Eve auf ihre Besonderheit anspielte.
„Wenn es aber wahr ist?"
„Du erzählst mir seit vier Jahren, dass du ihn bestochen hast, damit er dein Leben verschont."
„Ich habe einen Deal mit ihm ausgehandelt. Das ist was völlig anderes."
„Was es auch ist, niemand wird dir das jemals glauben."
„Dann hab ich eben Pech gehabt. Ich muss ohnehin los, wenn ich nicht zu spät kommen will."
Eve sprang auf und drückte Murna zum Abschied an sich. Sie und Murna stritten immer wieder darüber, wie es dazu gekommen war, dass Eve diese furchtbare Grippe überlebt hatte. Aber Murna wollte es einfach nicht wahrhaben. Sie wollte nicht, dass Eve in ihrem Glauben an diese Sache bestärkt wurde, aus Angst, sie könnte sich dadurch noch mehr absondern. Aus diesem Grund hielt sie auch nichts von Eves Galgenhumor. Nichts war schlimmer als ein einsames Leben, fand Murna. Dieses Schicksal war Eve nicht zugedacht und damit basta.
„Vergiss die Quittung nicht, das Mittagessen geht auf meine Rechnung!"
Während Eve sich im Laufschritt auf den Weg zum Campus machte, genoss sie den Sonnenschein auf ihrem Gesicht. Murna zuliebe war sie zum Essen nach drinnen gegangen, weil es dort eine Klimaanlage gab. Die Hitze des Sommers machte Murna wie den meisten älteren Menschen gewaltig zu schaffen. Eve erinnerte sich verträumt daran, dass Murna eine der Vorreiterinnen im Gebrauch von Sonnencreme gewesen war. Eves empfindliche Sommersprossenhaut war mit Sonne nur dann in Berührung gekommen, wenn sie den maximalen Schutz aufgetragen hatte. Murna hielt viel auf Gesundheit, obwohl sie eher so aussah, als würde sie wahllos Kuchen und Süßkram in sich hinein schaufeln. Vielleicht machte sie das auch, Eve jedenfalls hatte sie noch nie dabei gesehen.
Am Tor zum Campus fingerte Eve nach ihrem Ausweis und streckte ihn dem Wachposten entgegen. Die Kontrollen waren zum Alltag geworden, seit sich in dem kleinen Städtchen Whitehurst Bay immer wieder Gegebenheiten ereigneten, die alle in Aufruhr versetzten. Einige davon konnten nicht einmal ganz aufgeklärt werden. Eve versuchte, so wenig wie möglich daran zu denken. Doch der Fluch, mit dem sie leben musste, verfolgte sie überall hin, ob sie es so wollte oder nicht.
Auf dem Weg zu ihrem Geschichtskurs lief ihr Nate über den Weg, von dem sie sich vor einem dreiviertel Jahr getrennt hatte. Das niederschmetternde Ende ihrer Beziehung war absehbar gewesen; jetzt belegten sie denselben Kurs. Eve hatte es nicht gern getan, doch mittlerweile war sie daran gewöhnt, im entscheidenden Moment die Reißleine zu ziehen. In ihrer alten Schule war sie deshalb als das Mädchen bekannt geworden, dass vor jedem davonlief. Aber nicht die wussten Bescheid, sondern vor allem Eve. Sie kannte den Geschmack der Verzweiflung, der ihren Verstand in die Enge getrieben hatte. Sie hatte das hohe Fieber und die irren Träume gehabt. Die wirren Fantasien und das Gespräch mit Tod, der ihr versprach, erst später wiederzukommen. Sie war schon so gut wie verloren gewesen. Der Preis für den Deal? Die Leben der Männer, in die sie sich verlieben würde. Und auch die derer, die sich in sie verlieben würden. Verdammnis, Einsamkeit. Tod, wie sie ihn inzwischen vertrauensvoll nannte, ließ sich nicht linken. Er wusste immer, was er tat. Damals, mit fünfzehn, war sie getrost bereit gewesen, darauf einzugehen. Wer wollte schon in so jungen Jahren an so was Blödem wie einer Grippe sterben?
Sie und Nate umarmten sich, als wäre zwischen ihnen nie etwas gewesen. Nate würde nie Schwierigkeiten haben, eine neue Freundin zu finden. Er zog mit seiner Attraktivität sofort die Blicke aller anderen Mädchen und Frauen auf sich. Dass er im Moment eine ernsthafte Beziehung hatte, bezweifelte Eve trotzdem, denn er hatte in den vergangenen Wochen mehrmals vorsichtig durchblitzen lassen, Single zu sein.
„Du siehst toll aus, Eve."
„Du noch besser", erwiderte Eve automatisch. Bei Nate war es leicht, das zu sagen. Er war einer der wenigen gutaussehenden Typen, die nicht eingebildet rüberkamen.
Eve machte vorsichtshalber einen Schritt zurück. Alles war besser, als sich irgendwann Vorwürfe machen zu müssen. Es gefiel ihr nicht, es sich einzugestehen, aber Nates Nähe war immer noch wie eine berauschende Droge. Ganz unauffällig legte sie ihre Hand in den Nacken, wo sie unterhalb des Haaransatzes deutlich die kleinen senkrecht verlaufenden Narben spüren konnte. Es waren drei: eine für Ethan, eine für Adrian und eine für Jamie.
DU LIEST GERADE
Tantrum
ParanormalGanz unauffällig legte Eve ihre Hand in den Nacken, wo sie unterhalb des Haaransatzes deutlich die kleinen senkrecht verlaufenden Narben spüren konnte. Es waren drei: eine für Ethan, eine für Adrian und eine für Jamie. Eve musste auf Abstand gehen...