Tantrum Teil 4

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Tantrum

4

„Das darf doch jetzt nicht wahr sein!" Eve wurde fast vom Schlag getroffen. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.

„Was ist?"

„Nichts." Sie bemühte sich, nicht zu genervt zu klingen, war aber nicht besonders erfolgreich dabei: Dave, der dämonische Engel mit den blonden Haaren und der bleichen Haut, lehnte lässig am Zaun neben dem Tor, genau wie er es schon gestern getan hatte, diesmal jedoch war sein Blick unverkennbar auf Nate gerichtet.

Eve entschuldigte sich bei Nate, dann eilte sie schnurstracks zu Dave. In ihrem Bauch kribbelte es nervös. „Was willst du denn schon wieder hier?"

Die gute Laune, die sie eben noch gehabt hatte, war dahin. Zu allem Übel steuerte nun auch noch Nate in ihre Richtung.

„Ich wusste doch, dass du dich freust, mich zu sehen." Dave grinste maliziös, Eve hingegen wollte im Erdboden versinken. Es lagen zu viele negative Schwingungen in der Luft.

„Alles in Ordnung?", erklang Nates Stimme hinter ihr. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, den Unbekannten abzuchecken. Oder den Aufpasser zu spielen, wie Eve vermutete.

„Äh, also irgendwie schon", stammelte sie mit geröteten Wangen. Sie hatte keine Lust, die beiden jungen Männer, von denen man nicht sagen konnte, wer angriffslustiger dreinblickte, miteinander bekannt zu machen. Zu ihrem Glück fehlte nur noch, dass einer von ihnen die Pistole zog und den anderen zum Duell herausforderte. „Da ist was Persönliches, das ich klären muss. Entschuldigst du mich bitte?"

„Das ist jetzt ein Scherz", erwiderte Nate steinern.

„Nein. Es tut mir leid, Nate." Eve legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. Sie konnte spüren, dass sämtliche Muskeln in Nates Körper angespannt waren. „Ich bring das in Ordnung. Aber zuerst muss ich mich um diese Sache hier kümmern."

Nate kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, wodurch Eve einen zweiten Anlauf benötigte. Schließlich gelang es ihr, ihn zu überreden, und er zog davon. Verstimmt sah sie zu Dave, der immer noch lässig dastand, jedoch siegessicher dreinblickte. „Sag mal, spinnst du?", zischte sie Dave an. Sie war geladen vor Wut und nahm ihn beiseite.

Dave schob das Kinn nach vorn. „Er lebt gefährlich."

Es dauerte, bis Eve den Zusammenhang zwischen Tod und Nate begriff. „Nein, da irrst du dich. Nate und ich sind nur Freunde."

„Du hast echt keine Ahnung, oder? Macht nichts. Wir haben sowieso was anderes vor."

„Wir haben gar nichts vor", berichtigte Eve zynisch.

„Ich glaube schon."

Eve schauderte. Sie war unschlüssig, was sie tun sollte. Gestresst fuhr sie sich mit der Hand durch das braune Haar. „Hör zu, wenn du jetzt wieder mit der Masche anfängst, dass du mir was zeigen willst, dann verzichte ich. Du hast mich belogen und hintergangen, aber auf die Tour hab ich keine Lust."

„Worauf willst du hinaus?", fragte Dave. Er klang eher gelangweilt als einsichtig. Seine Stimme war ungewöhnlich sanft, beinahe schon verführerisch.

„Deine Uneinsichtigkeit nervt tierisch. Du hast mir keinen Grund gegeben, dir zu vertrauen."

„Schon wieder dieser vorwurfsvolle Ton. Ich glaube, du solltest dir trotzdem anhören, was ich zu sagen habe. Es ... geht um Jamie."

Eve kreischte hysterisch auf. „Jamie?" Sie biss sich auf die Unterlippe und lauschte unter Herzklopfen der eintretenden Stille, die Dave mit Grabesstimme heraufbeschworen hatte. Sie glaubte ihm kein Bisschen. Sie hatte sich felsenfest vorgenommen, auf ihr Bauchgefühl zu hören, ganz so, wie Murna es ihr geraten hatte. Das Dumme war nur, dass ihr Bauch jetzt gar nichts mehr sagte. Er schwieg sozusagen.

„So wahr ich hier stehe."

Ein seltsamer Ausdruck huschte über Eves Gesicht. Die Erinnerung an Jamies Beerdigung hämmerte unbarmherzig und schmerzhaft gegen das Innere ihres Kopfes. „Du ... du bist verrückt. Ich wusste es von Anfang an."

„Wenn das so ist, wieso bist du dann mit mir mitgegangen?"

„Du hast mich in Bedrängnis gebracht."

„Das war erst später."

„Du und deine dämonischen Fähigkeiten! Wer weiß, vielleicht hast du mich die ganze Zeit schon manipuliert." Etwas, das Nate nie tun würde, wie Eve schnell im Hinterkopf notierte. Der Kontrast zwischen ihm und Dave wurde immer augenscheinlicher. Nate war ein Kumpel, bei dem man sich guten Gewissens fallenlassen konnte. Seine langen Wimpern und das verwegen getragene schwarze Haar umschmeichelten sein schönes Gesicht in einer Weise, die jede Frau schwach werden ließ. Trotzdem brauchte man bei ihm keine Angst zu haben, hintergangen zu werden. Dave war ganz anders. Er sah auch gut aus, war jedoch verschlagen und kreuzte immer dann auf, wenn man ihn nicht brauchte. Eve wurde das Gefühl nicht los, dass sie jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, die betörende Flöte des Rattenfängers hörte. Nur wollte sie nicht länger die Ratte sein.

„Nenn mich, wie du willst. Ich bin nicht empfindlich."

Eve zögerte ihre Antwort hinaus. Ihr widerstrebte die Vorstellung, sich in Daves Obhut zu begeben. Andererseits wollte sie auf der Suche nach ihrer Bestimmung nicht verloren gehen. Sie hatte einige rätselhafte Dinge erlebt, die ihr niemand erklären konnte. Dave war bisher der Einzige, der sich in dieser Materie auskannte. „Na schön", sagte sie steif. „Wo geht es hin? Glaub ja nicht, ich setz mich neben dich in die Straßenbahn. Am besten wird sein, wir treffen uns dort."

„So schnell wirst du mich nicht los, Wildkatze. Aber wenn es dir so peinlich ist, mit mir gesehen zu werden, kann ich dich beruhigen. Ich habe ein Auto."

Eves Begeisterung hielt sich in Grenzen. Es war nicht Daves Auto, sondern Jamies, das am Straßenrand parkte. Sie erkannte es sofort wieder, denn in einer peniblen Stadt wie Whitehurst Bay gab es nicht viele fünfzig Jahre alte Rostlauben, von denen die verschiedensten Schichten des Lacks abblätterten. Die Karre war in so schlechtem Zustand, dass Eve nicht einmal sagen konnte, von welchen Herstellern die einzelnen Teile dafür stammten.

Als Dave die Wagentür öffnete und sie höflich aber auch bestimmt aufforderte, sich zu setzen, stellte Eve keine weiteren Fragen mehr. Seit sie ihn vor noch nicht mal vierundzwanzig Stunden am Tor ihres Colleges gesehen hatte, war ihr Leben vollends kompliziert geworden. Sie wünschte, sie hätte ihr eigenes Auto nicht geschrottet. Aber der Unfall von damals war nicht ihre einzige Sorge. Was die gute Murna dazu sagen würde, dass sie drauf und dran war, schon wieder mit Dave um die Häuser zu ziehen, daran wagte sie gar nicht erst zu denken. Sie waren sich bei der Unterhaltung am gestrigen Abend so nahe gewesen, wie lange nicht. Das war nun hinfällig. Eve war sich ziemlich sicher, dass ein weiterer Ausflug mit Dave sie der Hölle näherbrachte. Er führte sie mit Brotkrumen auf eine sich im Treibsand verlaufende Spur. Das Schlimmste daran war: sie konnte absolut nichts dagegen tun, um ihn davon abzuhalten. Eve musste den Krumen folgen, wenn sie ihr Schicksal anerkennen wollte. Sie war zu etwas auserwählt. Sie konnte in den Eingeweiden spüren, dass es Dinge gab, die sich entwickelten, ohne dass man sie aufhalten konnte. Vorausgesetzt, man hatte die richtigen Kontakte zur Unterwelt. Und vorausgesetzt auch, man glaubte an engelsgleich aussehende Dämonen, die unerklärliche Phänomene ins Rollen brachten.

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