Tantrum
7
Dave fuhr Eve in der Rostlaube bis in die Pinewood Road, in der sie wohnte. Früher war hier tatsächlich ein mickriges Wäldchen gewesen, doch davon war heute nichts mehr übrig. Irgendwann war wohl jemand auf die Idee gekommen, alles abzuholzen, um den Blick auf die Küste freizugeben.
Ein paar Türen vor dem Haus ihrer Familie blieb Dave stehen, parkte unauffällig hinter einem weißen Lieferwagen und stellte den Motor ab.
„Danke", sagte Eve mit trockenem Mund. Sie sah durch das schmutzige Seitenfenster nach draußen, wo der Schäferhund im Garten des Nachbarn hinter dem weißen Zaun herumlief und ein kehliges Kläffen von sich gab. Sie wollte überall hinsehen, solange es nur nicht Dave war. Beide hatten auf der Fahrt so gut wie kein Wort miteinander gewechselt. Er hatte ihr nicht näher erzählt, was mit Ethan und Adrian passiert war, aber Eve bildete sich ein, dass sie ihn verstehen konnte. Ihm ging es nur um Jamie, denn er hatte sich geschworen, ihn immer zu beschützen.
Dave trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. „Ich dachte, deine Anwesenheit ändert vielleicht was ... Dass er vielleicht deine Stimme hört und aufwacht."
Das überraschte Eve. Sie sah ihn an und ihre Blicke trafen sich. Nur diesmal war alles ganz schön verworren. Wie in einem dieser magischen Momente, wenn man sich unbewusst näherkam.
„Verrückt, nicht wahr?", sagte Dave. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er sah so anders aus, wenn er lächelte. Unbeschwert, dachte Eve.
„So seltsam finde ich das gar nicht. Es hat nur nicht geklappt."
Das Trommeln seiner Finger hörte auf und Eve hielt gebannt den Atem an.
„Ich danke dir, Evelyn Roberts."
„Schon gut", sagte sie verstört. Doch es war nicht gut. Nichts von alldem. Was ging hier vor sich? In der Luft lag plötzlich nicht mehr dieser stickige, einem Uraltauto anhaftende Mief, der auch nicht dadurch besser wurde, dass keiner daran dachte, die Fenster runterzukurbeln. Eve fasste nach dem Türgriff und grub ihre Fingernägel hinein. Sie hätte ihn am liebsten gefragt, wieso er sich bei ihr bedankte, aber sie konnte kaum einen vernünftigen Satz formulieren, wenn er sie so ansah. Die Vorstellung, er und sie könnten auf einer Wellenlänge lieben, war wie ein Beben, das durch ihren Körper lief.
Ihr war schwindlig, als sie aus dem Auto stieg. Der Gehsteig schien zu vibrieren, am Fenster des Hauses, zu dem der Schäferhund gehörte, bewegte sich ein Vorhang. Ohne sich umzublicken rannte Eve nach Hause. Hätte sie auch nur einen Moment gezögert, wer weiß, was dann geschehen wäre. Dave besaß die Gabe, Menschen zu manipulieren, sie vielleicht sogar gefügig zu machen. Wenn Dave auf Tuchfühlung gehen wollte, war Vorsicht angebracht. Ihm war nicht zu trauen.
Als Eve ins Wohnzimmer trat, stand Murna mit dem Rücken zur Tür und faltete frische Wäsche. Im Hintergrund war eine Männerstimme aus dem Fernseher zu hören, die die Wettervorschau der nächsten Tage verkündete. Aber in Whitehurst Bay war es sowieso meist sonnig und niemand achtete auf die Wettervorhersage. Es gab hier so gut wie keine großen Veränderungen. Wenn man von den Vorlieben für Feste und den hin und wieder auftretenden mysteriösen Vorkommnissen absah, konnte man gut und gerne so tun, als wäre es der schönste Ort auf der gesamten Welt. Meist war das auch so, aber aus irgendeinem Grund war Eve nicht bereit dazu, die positiven Schwingungen ihrer Umgebung zu empfangen.
Die Begrüßung mit Murna fiel kurz und heftig aus. Eve fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Murna irgendwelche überirdische Fähigkeiten besaß, die sie ihr verschwieg. Seit ihrer gestrigen Unterhaltung fand sie diese Möglichkeit immer wahrscheinlicher. In Windeseile aß sie ein Sandwich, kippte eine Ladung Eistee hinunter und raste auf ihr Zimmer. Die Fenster standen offen, doch Eve war nicht nach Frischluft. Sie sehnte sich nach Geborgenheit, also verriegelte sie die Fenster und zog die Vorhänge zu. In ihrem Kopf kreisten in einer Endlosschleife Jamie und die Gruft, Dave und das stickige Auto, der Nebenraum in der Kirche mit den Statuen, der kläffende Schäferhund des Nachbarn und Murna, die ihr mit Argusaugen nachsah, wenn sie das Haus verließ. Hinzu türmten sich immer neue Fragen auf, wie zum Beispiel die, wieso Dave zwei Jahre gebraucht hatte, um auf sie zuzugehen. Was war vorhin im Auto passiert?
Nein, er hatte nicht versucht, sie anzumachen.
Eve warf sich aufs Bett und nahm das Handy aus ihrer Tasche. Schon wieder stand Nates Name in der Liste der entgangenen Anrufe. Und Ludys.
Ludy, Eves beste Freundin, war genau das Richtige, um wieder auf Kurs zu kommen. Sie hatte eine Vorliebe für schrille Kleidung, hohe Absätze und Margaritas, wohingegen Eve nichts davon besonders gut leiden konnte. Der Vorteil bei Ludy war, dass sie immer gut gelaunt war und jeden Höhe- und Tiefpunkt in Eves Leben kannte, mal abgesehen von den Ereignissen der vergangenen zwei Tage. Der Nachteil, dass sie in New York lebte – ein paar entsetzlich quälende Autostunden von Whitehurst Bay entfernt.
Während Eves Finger wie von selbst die Hörertaste drückte, starrte sie erschöpft das Display an. Nach ein paar Mal Klingeln meldete sich Ludy und Eve legte los. Jetzt war es noch frisch. Sie erzählte ihr alles, es sprudelte förmlich aus ihr heraus. Jedes noch so winzige Detail.
Ludy seufzte, sie war kaum zu Wort gekommen. „Eve ..."
„Ja?"
Nichts als Stille war zu hören, dann holte Ludy Luft. „Zuerst solltest du dich beruhigen", sagte sie in ihrer mütterlichen Art, die Eve oft mehr zur Vernunft gebracht hatte, als ihre eigene Mutter es vermochte. „Du musst mit Murna darüber reden. Wenn du das alles in dich rein frisst, wirst du noch verrückt."
Erleichtert atmete Eve auf. Sie hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass Ludy sie verstehen würde. Sie war schließlich nicht nach New York gegangen, weil sie engstirnig und kleinkariert dachte. Ludy war seit jeher sehr empfänglich für Spirituelles und alles, was mit übernatürlichen Gegebenheiten zusammenhing. Sie liebte die weite der Welt mit ihren Ecken und Kanten und das Leben in all seiner Vielfalt. Sie stürzte sich in ein Abenteuer nach dem anderen und wusste, wie man in einer Großstadt überlebte. Sie war wie eine exzentrische, schillernde Libelle mit einem riesengroßen Herzen und einer noch größeren Schwäche für Männer.
„Ich werde so schnell kommen, wie ich kann. Morgen findet ein Dinner statt, auf das ich muss, aber dann bin ich bei dir. Wohltätigkeitssache ... stell dir vor, der Kerl, den ich begleiten soll, spielt Football!"
Eve wusste, was das bedeutete: Muskeln. Und wo Muskeln waren, war kein Platz für Vernunft. „Ist er so umwerfend, dass du mit ihm ins Bett gehst?"
„Du verdirbst mir noch die ganze Überraschung", stöhnte Ludy. „Aber er ist verdammt heiß, also schätze ich schon."
Eve vergaß für einen Moment ihre eigenen Sorgen und machte sich stattdessen zur Abwechslung welche um Ludy. Sie hatte ganz verdrängt, wie es war, um die beste Freundin Angst zu haben. Egal ob es sich bei Ludys Begleitern um Profisportler oder reiche Geschäftsleute handelte, mit denen sie verkehrte, Eve wollte nicht, dass sie eines Nachts heimlich in einem Straßengraben verscharrt wurde.
„Hoffentlich hast du das Kleingedruckte zwischen den Zeilen gelesen. Sei bloß vorsichtig bei diesen Jobs. Typen wie die haben Kohle wie Heu, Ludmilla, und massenweise Anwälte im Schlepptau." Dass es andere Möglichkeiten gab, sein Geld zu verdienen, brauchte sie ihr nicht zu sagen, Ludy war nicht auf den Kopf gefallen. Allerdings benebelte ihre Abenteuerlust gehörig ihren Verstand, sonst hätte sie gewusst, dass sie mit ihrem Aussehen und den langen Storchenbeinen etwas Besseres aus sich würde machen können.
„Das ist dein Problem, Schätzchen, du liest zu viel. Doch der Abend bringt mir satte tausend Mäuse."
War das zu fassen? Eves Alarmglocken schrillten. „Abzüglich für das Mietauto, das du brauchst, um nach Whitehurst Bay zu kommen. Und die Kosten für deine Beerdigung. Vergiss es, du bleibst, wo du bist."
„Lass es gut sein, Süße. Ich komme zu dir, darauf kannst du dich verlassen."
Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, fühlte Eve sich schuldig, weil sie Ludy alles erzählt hatte. Es war etwas anderes, Murna mit hineinzuziehen, als Ludy, der das Wort Vorsicht fremd war. Sie mochte vielleicht nicht an Dämonen glauben, dafür aber ganz sicher an gute Geister und sexy Engel mit Waschbrettbauch.
Der Gedanke brachte Eve zum Lachen. Sie klappte den Laptop auf, nahm ihren Schreibblock aus der Tasche und bewaffnete sich mit einem Stift. Wenn sie ihr Studium nicht hinwerfen wollte, musste sie etwas dafür tun.
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Tantrum
ParanormalGanz unauffällig legte Eve ihre Hand in den Nacken, wo sie unterhalb des Haaransatzes deutlich die kleinen senkrecht verlaufenden Narben spüren konnte. Es waren drei: eine für Ethan, eine für Adrian und eine für Jamie. Eve musste auf Abstand gehen...