Meine Inspiration für die unterirdische Landschaft dieses und des vorigen Kapitels fand ich in den Tiefen des Pariser Opernhauses, die Gaston Leroux kreierte. Ich verneige mich.
Tantrum
6
Die schauderhafte Kälte, die Eve beim Abstieg ins Ungewisse in sich gehabt hatte, war verschwunden. Feine Schweißtröpfchen bildeten sich nun auf ihrer Haut, von der stickigen warmen Luft kommend, die die Pflanzen in der Höhle mit ihren Ausdünstungen verursachten.
„Was hast du mit ihm gemacht?" Eves Stimme zitterte beim Sprechen, während sich ihre Augen mit Tränen füllten und ihr den Blick vernebelten. „Wie – wie ist das möglich?"
Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn und fasste in Gedanken noch einmal alles zusammen. Dabei blieb sie immer wieder an einem hängen: Jamie war nicht tot. Im ersten Moment mutete es an wie ein Wunder. Natürlich hatte sie sich oft gewünscht, dass er noch lebte. Dass sie nie für seinen Tod verantwortlich gewesen wäre. Sie blinzelte und schaute zu Dave, der beinahe dieselben ebenmäßigen Züge hatte, wie Jamie sie gehabt hatte. Aus irgendeinem Grund zögerte sie, zu dem Sarg hinüber zu gehen. Sie hatte Angst.
„Ich konnte ihn nicht sterben lassen, also habe ich mich für die Alternative entschieden."
„Du hast zugelassen, dass das aus ihm wird?" Die Bestürzung über Jamies ungewisses Schicksal schwang deutlich in ihrer Stimme mit. Ihre Gedanken kreisten um eine Vielzahl der absurdesten Fragen, die alle zugleich beantwortet werden wollten. Hatte er nicht gesagt, dass Jamie nicht bereit für das Leben war? Es waren zwei Jahre seit seiner Beerdigung vergangen ...
„Dafür, dass du kein Mensch mehr bist und nichts davon verstehst, stellst du komische Fragen."
„Ich bin ein Mensch", erwiderte Eve steif.
„Nicht ganz. Du bist nicht, wie du denkst. Du bist anders."
„Nur weil ich unsterblich bin, heißt das noch lange nicht, dass mein Leben nicht so weitergehen muss, wie zuvor."
„Wach auf, Eve. Du magst unverwundbar sein, aber eines Tages wirst auch du sterben. Sicher nicht wie die anderen Mädchen – die übrigens auf das Kantinenessen angewiesen sind, weil sie es sich nicht leisten können, jeden Tag mit ihrer Babysitterin zu Mittag zu essen."
Eve sackte durch die Last seiner Worte in sich zusammen, als hätte er damit die Luft aus ihrem Körper gepresst. Sie hatte sich Mühe gegeben, vor den anderen Studenten nicht wie eine reiche Tussi aufzutreten. Ja, es stimmte, sie war nicht auf das Kantinenessen angewiesen. Aber spielte das jetzt überhaupt eine Rolle? Im Zusammenhang mit Jamie hatte sie etwas anderes erwartet. Streng genommen wusste sie nicht einmal, was das gewesen war. Vielleicht einen Gedenkstein, auf dem sich alle, die ihn geliebt hatten, verewigen sollten. Und jetzt das. Was sie hier vor sich hatte, war keine Gruft. Ebenso wenig war es ein Kühlhaus, in dem man Leichen konservierte, sondern ein Mausoleum für die Ewigkeit. Es wurde errichtet, um Jamie, koste es, was es wolle, am Leben zu erhalten – sofern man überhaupt davon sprechen konnte.
„Was kann ich dafür, dass meine Eltern zufällig wohlhabend sind", sagte Eve zornig. „Eines Tages werde ich auf eigenen Beinen stehen."
Dave grinste gehässig, hielt aber zumindest den Mund, und Eve bekam Gelegenheit, sich zu sammeln und die vielen Gedanken in ihrem Kopf neu zu sortieren.
„Du sagtest, ich bin unverwundbar?"
Das Grinsen verschwand wie weggewischt aus Daves Gesicht und er seufzte. „Ich weiß nicht genau, was du bist. Ich weiß nur, dass Tod nicht zulässt, dass dir etwas passiert."
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Tantrum
ParanormalGanz unauffällig legte Eve ihre Hand in den Nacken, wo sie unterhalb des Haaransatzes deutlich die kleinen senkrecht verlaufenden Narben spüren konnte. Es waren drei: eine für Ethan, eine für Adrian und eine für Jamie. Eve musste auf Abstand gehen...