Tantrum Teil 9

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Tantrum

9

Noch bevor die Sonne richtig die Ankunft des neuen Morgens kund gab, standen Eve und Nate vor dem verschlossenen Friedhofstor. Die Spitze des Kirchturms leuchtete in majestätischem Goldrot, während die hinter der Mauer liegenden Gräber nach wie vor zu großen Teilen in gespenstische Dunkelheit gehüllt waren. Eve sah sich ergriffen um. Das Meer in der Ferne war zu einem sanft wogenden Spiegel erwacht, über dessen Oberfläche vermutlich soeben Seevögel nach Futter suchten. Die sich unter ihr erstreckende Stadt schimmerte friedlich im Licht der Straßenbeleuchtung. Murna war bestimmt gerade dabei, die Füße aus dem Bett zu heben. Vorsichtshalber nahm Eve ihr Handy heraus und schaltete es auf stumm. Sie hoffte, dass die Nachricht auf dem Küchentisch ausreichen würde, Murna zu beruhigen, wusste jedoch, dass die Chancen darauf schlecht standen.

„Verrätst du mir jetzt, was diese Heimlichtuerei soll?", wollte Nate wissen, als er das Werkzeug aus dem Kofferraum holte. „Ich weiß doch, wenn du mit deinen Gedanken irgendwo im Niemandsland bist." Natürlich war ihm aufgefallen, dass sie ihm immer wieder ausgewichen war, wenn er versucht hatte, eine Unterhaltung anzufangen. So wie jetzt. „Eve. Hörst du mir überhaupt zu?" Er drehte den Kopf nach hinten. Noch immer sah sie nicht besonders gesprächig aus.

„Hab Geduld" murmelte Eve in ihren Rucksack hinein. Sie zog zwei Taschenlampen daraus hervor und checkte nochmals die Batterien, obwohl sie das bereits zuhause getan hatte. Die Vorstellung, in dem unterirdischen Stollen auf halber Strecke plötzlich im Dunkeln zu stehen, war der blanke Horror. Zur Not hätte sie immer noch die Taschenlampenapp ihres Handys. „Ich will dir alles zeigen, aber du musst mir vertrauen."

Das Tor des Friedhofs und die Kirchentür aufzuknacken war eine Kleinigkeit für Nate. Er half hin und wieder im Antiquitätenladen seines Vaters aus, der alles Mögliche aufpolierte und reparierte, solange es mit Holz und Metallen zu tun hatte. Die Tür im Inneren der Kirche war da schon schwieriger aufzubekommen. Schließlich schaffte er es.

„Du hast fünf Minuten gebraucht", sagte Eve scherzhaft, um ihn aufzuziehen. „Wenn die Tür einen Alarm gehabt hätte, säßen wir jetzt schon im Knast."

Nate starrte sie unverwandt an. „Ich bin nicht mein Vater. Das nächste Mal solltest du ihn mitnehmen, wenn du wo einbrechen willst. Er ist der Experte für antike Schlösser in unserer Familie."

„Der Anblick, den du gleich vor dir haben wirst, wird dich für alles entlohnen, glaub mir."

Nate steckte das Werkzeug in den Rucksack und setzte ihn auf. Eve konnte sehen, dass er sich unwohl fühlte, weil er noch immer nicht wusste, was ihn erwartete.

„Bist du bereit?"

„Mir bleibt ja kaum eine andere Wahl."

Grinsend reichte sie ihm eine der Taschenlampen. Dann klopfte sie ihm auf die Schulter und schritt beherzt durch die Tür in die Dunkelheit, wo sie das Licht der vielen aus der Kirche stammenden Kerzen, die zum Gedenken Verstorbener brannten, nurmehr schwer erreichen konnte. Fast zeitgleich knipsten sie die Lampen an. Der Raum mit den Statuen erhellte sich.

„Woah!" Nate wich ein Stück zurück. Ehrfürchtig sah er sich um und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sein Blick an den riesigen Figuren hängenblieb, die in dem verborgenen Nebenraum der Kirche den Eindruck einer eigenen kleinen Museumswelt vermittelten.

„Hab ich doch gesagt. Die sind unglaublich, oder?", verkündete Eve strahlend; der auf die Statuen fallende Lichtschein ließ sie noch viel lebensechter und gruseliger erscheinen, als bei ihrem erstem Besuch mit Dave.

„Was machen die alle hier? Wie hast du die gefunden?"

„Dave hat sie mir gezeigt. Niemand kommt so einfach hier rein." Es sei denn, er ist mit Dämonen im Bunde, dachte sie im Stillen.

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