Meine Inspiration für die unterirdische Landschaft dieses und des nächsten Kapitels fand ich in den Tiefen des Pariser Opernhauses, die Gaston Leroux kreierte. Ich verneige mich.
Tantrum
5
Der Friedhof. Natürlich musste es der Friedhof sein.
Eve konnte nicht glauben, dass sie sich dazu hatte überreden lassen. Die ganze Zeit, während sie neben Dave im Auto gesessen hatte, war ihr mulmig zumute gewesen. Inzwischen hatten sie ihr Ziel erreicht.
Dave parkte die Rostlaube am Ende der Straße neben dem Blumenbeet mit den Margeriten. Er hielt Eve die Beifahrertür auf und sie war froh, dass niemand sie beobachtete. Niemand außer den üblichen Leuten hier oben. Unter ihnen erkannte Eve die alte Dame, die wie jeden Tag am Grab ihres verstorbenen Mannes war, und sah schon von Weitem den Gärtner in seinem Karohemd, der wieder eine voll beladene Schubkarre durch die Reihen schob – mechanischer Gang und Sonnenhut inklusive. Es waren vertraute Szenen.
Auf dem Weg zur Kirche geschah dann das Sonderbare: Dave und der Gärtner sahen sich an, als würden sie sich kennen. Eve ließ die beiden nicht aus den Augen, bis der Gärtner hinter einer überlebensgroßen Engelsfigur aus grauem Stein verschwunden war.
„Ein Freund von dir?"
Dave grunzte. „Das ist nur Collin. Er passt auf alles auf."
Eve nahm sich vor, sich nicht darüber zu wundern.
Wie der Hügel, auf dem sie stand, war auch die Kirche nicht besonders groß. Im Inneren war es kühl und roch nach brennenden Kerzen. Eve war zwar noch nicht allzu oft drinnen gewesen, doch an diesem Tag entfaltete die Kirche eine ganz besondere Magie. Rauchiges Sonnenlicht brach durch hohe Buntglasfenster und teilte sich in die Farben des Regenbogens. Hinzu kamen das Spiel von Licht und Schatten, Gold und Kristall. Es war eines der schönsten Gebäude, das Eve je betreten hatte, reichhaltig ausgestattet mit einem Altar aus Marmor, meterhohen umrahmten Bildern und dunklen schweren Stoffen, die wie Brokatvorhänge den Beichtstuhl und die Wandbehänge zierten. Die Decke war unterteilt in mehrere einzelne Schiffe und wurde von hohen Säulen getragen, die aussahen, als hätten verschiedene Epochen beim Bau der Kirche in der verheißungsvollen neuen Welt eine Rolle gespielt. Eve vermutete, dass sie bedeutenden Architekten und Künstlern aus Europa nachempfunden waren. Sie erkannte diverse Baustile von den Postkarten in ihrem Zimmer und den Kursen am College wieder.
Dave hielt, dicht gefolgt von Eve, entschlossenen Schrittes auf eine Holztür zu. Als sie sie erreichten, holte er einen Schlüssel hervor, der an einem Band um seinen Hals befestigt war. Er öffnete die Tür und führte Eve durch sie hindurch in einen Nebenraum, den sie noch nie betreten hatte, bevor er sie sorgfältig wieder verschloss.
Eve sah sich um. Hier, vor der Öffentlichkeit verborgen, gab es kein aufwändiges Dekor aus schwerem Stoff, keine hölzernen Schnitzereien und keine pompösen Verzierungen aus glänzendem Gold. Der gesamte Raum bestand zu Dutzenden aus steinernen Skulpturen und Figuren, die teils grässliche Fratzen trugen wie manche Wasserspeier es taten, während andere, so wie die Darstellungen der Engel, vor Schönheit und Wehmut nur so strahlten. Einige der Werke waren aus weißem Marmor, andere besaßen Flügel. Wieder andere hielten in grauen Stein gehauene Gegenstände, etwa Musikinstrumente oder Speere, in den Händen. So unterschiedlich sie auch waren, hatten sie alle eines gemein: Jedes einzelne Stück hätte aus dem kostbaren Fundus eines Museums oder Sammlers stammen können.
„Wo sind wir hier?", fragte Eve erstaunt. Sie war stehengeblieben, um den wundersamen Anblick in vollen Zügen zu genießen.
„Was du vor dir siehst, bekommen nur wenige Sterbliche zu Gesicht. Es ist ein Privileg, diesen Raum zu betreten, denn er enthält die Abbilder der bedeutendsten Engel und Dämonen, die die Welt je gesehen hat. Vielleicht wirst du einige von ihnen irgendwann kennenlernen. Menschen halten sie schlicht für Kunst. Wir lassen sie in dem Glauben."
Eve konnte sich gar nicht sattsehen. Erst als Dave aus ihrem Blickfeld zu verschwinden drohte, eilte sie ihm nach. Hinter der Figur eines geflügelten Adonis machte er sich an einer Wand zu schaffen.
„Hier ist es", sagte Dave zufrieden und drückte die flache Hand auf einen unauffälligen Mauerstein. Im nächsten Moment glitt mechanisch betrieben ein Stück der Wand beiseite und gab ein schwarzes Loch dahinter frei. Der dabei entstehende Luftzug, der durch die Öffnung rauschte, war wie ein gewaltiger Seufzer aus einer kalten modrigen Grabkammer. Eve wollte nicht wissen, was sie als Nächstes erwartete und ließ Dave den Vortritt. Angespannt beobachtete sie, wie ihr Begleiter in das Loch hinter der Wand griff, eine in Öl getränkte Fackel daraus hervorholte und ein Feuerzeug aus der Hose zog.
Dave drückte Eve die Fackel in die Hand. Als sich die Flammen beim Entzünden in das Öl fraßen, musste sie ihr Gesicht vor ihnen abschirmen.
„Für jemanden, der sich für Geschichte interessiert, bist du ganz schön zimperlich", sagte Dave belustigt.
Eve verdrehte die Augen. Noch so ein Spruch und sie würde ihre guten Manieren vergessen und ihm in den Arsch treten. „Du scheinst ja eine Menge über mich zu wissen. Wer bist du, Dave? Ein Totengräber mit einem Abschluss in Archäologie?"
„Ob du es glaubst oder nicht, ich will dir helfen."
„Ach ja? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du weichst mir aus."
„Es geht nicht um mich, sondern um dich."
„Mein Leben war ziemlich in Ordnung, bevor ich dich getroffen habe."
„War es das?", bemerkte Dave zynisch. „Ich hatte den Eindruck, du läufst vor allem davon. Versteckst dich hinter deinem wachsamen Kindermädchen."
„Es ist nichts falsch daran, wenn man versucht, ein besserer Mensch zu werden."
Dave machte einen Satz hinter die Mauer, als kümmerte ihn ihre Antwort nicht. „Komm jetzt lieber", hallte seine Stimme aus dem schwarzen Loch, das, wie Eve vermutete, in einem Gang oder einer Höhle enden musste.
Eve trat frustriert mit dem Fuß gegen einen Mauerstein, bereute es aber sofort: Ihre leichten sommerlichen Sneakers waren nicht stoßfest. Sie folgte Dave vorsichtig in das Loch und wurde mit ihrer Fackel von gnadenloser Dunkelheit verschluckt.
„Bleib dicht hinter mir", wies Dave sie an.
Über Stufen aus roh gehauenem Stein ging es spiralförmig hinab. Um sie her herrschte Stille. Und Furcht. Und Kälte.
Eve hatte keine Wahl, als Dave zu folgen, wenn sie nicht in dieser Finsternis zurückbleiben wollte. Jeder, der behauptete, bei solchen Erkundungsgängen nicht mindestens eine Gänsehaut zu bekommen, war ein Lügner.
Am Ende mündete der Gang ins Licht. Eve war froh, dass der Weg nicht sonderlich weit gewesen war. Vor ihr tat sich eine riesige unterirdische Höhle auf, die aussah wie ein blühender botanischer Garten, gespeist durch künstliches Sonnenlicht von oben. Eve traute ihren Augen kaum, als sie verschiedene Zierblumen und Palmen ausmachte, die unmöglich hier unten gedeihen konnten. Im Zentrum der Höhle war ein mehrere Meter großer, blaugrün schimmernder See. Dahinter stand auf einem Podest ein Glaskasten aus Kristall, dessen Ränder fein geschliffen waren, so groß wie ein Terrarium für Schlangen, Echsen oder ähnliches Getier.
Ein Sarg.
Und in dem Sarg, dessen gläserner Deckel zur Höhlendecke hin geöffnet war, lag jemand.
Eve zuckte erschrocken zusammen. Sie wusste, dass auf dem Friedhof eine Gruft existierte. Aber nie im Leben hätte sie es sich so erträumt. Mit Sicherheit hatte kein normaler Mensch das hier je gesehen. Sie war bleich wie ein Leichentuch und starrte mit geweiteten Augen auf den Sarg.
„Ist das ...?" Ihr stockte der Atem.
„Ja."
„Was – was ist mit ihm?"
„Er ist nicht tot, Eve. Aber er ist auch nicht bereit für das Leben. Er schläft."
Und das seit zwei Jahren.
Eves Verstand setzte aus. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund und ließ die Fackel fallen. Polternd fiel sie zu Boden und rollte gegen einen Stein. Eve merkte es nicht einmal. Sie hörte unterschwellig das dumpfe Geräusch und wankte auf wackeligen Knien zu einer Palme, um sich mit dem Rücken dagegen zu lehnen, während der Schock sich ihrer Glieder bemächtigte.
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Tantrum
ParanormalGanz unauffällig legte Eve ihre Hand in den Nacken, wo sie unterhalb des Haaransatzes deutlich die kleinen senkrecht verlaufenden Narben spüren konnte. Es waren drei: eine für Ethan, eine für Adrian und eine für Jamie. Eve musste auf Abstand gehen...