Tantrum Teil 3

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Tantrum

3

Es gab viele Wege, den Kopf freizubekommen, aber nur einen vernünftigen.

Eve entschied sich für einen Spaziergang und fuhr mit der Straßenbahn in den Norden der Stadt, wo es auf einem sanft anlaufenden Hügel eine wunderschöne Kirche gab. Dort, auf dem angrenzenden Friedhof mit all seinen Gräbern, den Engelsstatuen und einer schauderhaften alten Gruft, war Jamie begraben.

Die Straßenbahn ruckelte gemächlich durch die Gegend und kam quietschend zum Stehen. Eve stieg aus und ging den Rest des Weges, der über eine gewundene Straße führte, zu Fuß. Der Hügel war nicht besonders groß, so dass man von oben gerade mal die Dächer der höchsten Häuser im Stadtinneren sehen konnte. Alles, was niedriger war, lag dazwischen verborgen. Rund um den Friedhof verlief eine bröckelige Steinmauer, die zwar nicht ins gepflegte Bild der Landschaft passte, dafür aber einen Hauch urtümliche Magie versprühte. Jamie hätte diesen Flecken Erde mit ziemlicher Sicherheit geliebt. Aber daran durfte Eve jetzt nicht denken. An nichts von alldem, was mit dem Übernatürlichen zu tun hatte.

Am Ende der Straße bückte sie sich und brach ein paar Margeriten von dem kleinen Blumenbeet ab, das neben dem Eingang an der Mauer lag, dann schlenderte sie zu Jamies Grab. Anfangs hatte sie noch mitgezählt, wie oft sie hier gewesen war, inzwischen hatte sie damit aufgehört. Der Weg war ihr so vertraut, dass sie ihn mühelos im Dunkeln finden würde. Wie immer lief es ihr kalt über den Rücken, als sie es sah. Jamies Tod war der schlimmste von allen gewesen, ihre erste, richtig große Liebe.

Eve stand vor dem gräulichen Grabstein, der aus ungeschliffenem Marmor bestand, und starrte ihn an. Ein schlichter Stein, der rau und verwittert wirkte, obwohl das Grab immer gut gepflegt wurde; der einzige in der Reihe, der sich durch seine Natürlichkeit von den anderen unterschied. Er passte hervorragend zu Jamie, weil er genau wie er etwas Besonderes war.

Vertraute Geräusche wurden laut. Unweit von Eve schob der Friedhofsgärtner seine mit einem Sack Erde beladene Schubkarre über den Kiesweg. Hölzerne Stiele von einer Schaufel und einem Rechen ragten daraus hervor. Der Gärtner war ein stattlicher Mann mit einem mechanischen Gang. Seine langen muskulösen Arme kamen unter einem verwaschenen Karohemd zum Vorschein, das auf beiden Seiten hochgekrempelt war. Eve folgte ihm mit ihrem Blick. Sie hatte ihn schon oft gesehen, doch heute war ihr zum ersten Mal, als würde er sie durch glühende Augen beobachten. Was vermutlich nur daran lag, dass er einen übergroßen Strohhut auf dem Kopf trug, durch dessen Löcher das gleißende Sonnenlicht reflektiert wurde ... Nicht mehr lange, dann würde man sie für verrückt erklären.

Verwirrt blickte sie sich um und war froh, als sie die alte Dame wiedererkannte, die Tag für Tag das Grab ihres Mannes besuchte und stundenlang dort ausharrte. Eve blieb nur ein paar Minuten. Sie legte die Blumen nieder, dann ging sie zur Straßenbahn und fuhr zurück. Es war halb acht, als sie zuhause ankam. Auf dem Küchentisch aus Kirschholz lag eine Postkarte aus Paris. Eve konnte Bildausschnitte vom Eiffelturm und der berühmten Glaspyramide vor dem Louvre sehen. Als sie die Karte umdrehte, las sie auf der Rückseite in verschnörkelter Handschrift die Grüße ihrer Eltern. Seit sie denken konnte, hatte sie gefühlte tausend dieser Postkarten erhalten, die alle in einer Schuhschachtel unter ihrem Bett lagen. Mit den schönsten Motiven hatte sie die Wände ihres Zimmers tapeziert.

„Du bist spät dran."

Eve wirbelte erschrocken herum und sah Murna mit ernster Miene in der Tür stehen. Der Ton, den sie benutzte, sprach für sich. Sie war wieder einmal in Höchstform, weshalb Eve sie oft als Anstandsdame bezeichnete.

„Ich bin kein Kind mehr, Murna", setzte Eve seufzend entgegen, obwohl es zwecklos war, sie darauf hinzuweisen. Murna war von Anfang an für Eve dagewesen. Sie besaß ein ansehnliches Zimmer im großen Haus der Familie Roberts. Auf diese Weise hatte jeder etwas von dem Arrangement: Eve stand unter strenger Bewachung, während ihre Eltern nach Herzenslust die Welt bereisen konnten, was sie eigentlich das ganze Jahr über taten. Von dem Geld, das Murna auf diese Weise in den vergangenen neunzehn Jahren verdient hatte, hatte sie sich fürs Alter ein kleines Reihenhaus gekauft, das sie jedoch nur dann bewohnte, wenn Eves Eltern einmal nicht auf Reisen waren. Eve hatte kein Problem damit. Sie schätzte Murna. Und obwohl sie viel miteinander stritten, blieb Eve der Ansicht treu, dass sich Murnas Fürsorge nicht mit Geld aufwiegen ließ.

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