Tantrum Teil 2

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Tantrum

2

Eve sah den jungen Mann beim schmiedeeisernen Eingangstor zum College stehen. Er lehnte lässig am angrenzenden Zaun, eine glimmende Zigarette zwischen den Fingern. Das lockere T-Shirt, das er zusammen mit einer Jeans trug, war zwar legere, sah an seiner Gestalt jedoch keineswegs so aus. Seine Haut war auffallend hell und seine Arme trainiert. Sein Anblick weckte eine grauenhafte Erinnerung in Eve, der eine Gänsehaut über ihren Rücken jagte. Wie angewurzelt blieb sie stehen, so dass die ihr nachfolgenden Studenten einen Bogen um sie machen mussten, um auf dem Weg zum Tor nicht mit ihr zu kollidieren.

Er dürfte gar nicht hier sein.

Jamie würde nie wieder plötzlich irgendwo stehen. Jamie war tot. Eve war sogar auf seiner Beerdigung gewesen. Und dort hatte sie auch zum ersten Mal den jungen Mann gesehen, Jamie wie aus dem Gesicht geschnitten, jedoch etwas älter als er. Es war sein Bruder, der jetzt am Zaun lehnte, als würde er rein zufällig vor dem College stehen.

Aber Eve glaubte nicht mehr an Zufälle.

Eve ballte die Hände zu Fäusten und ging auf ihn zu. „Du bist Jamies Bruder", sagte sie unbeirrbar, als sie ihn erreichte. „Ich hab dich schon mal gesehen."

Der junge Mann schnippte seine Zigarette auf die Straße und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Du bist Eve", erwiderte er, sich trotz ihres forschen Auftritts gänzlich unbeeindruckt zeigend. Er sprach in einem belanglosen Plauderton, seine Augen hingegen verbargen ein loderndes Feuer in ihren Tiefen, wodurch er eine gespenstische Ausstrahlung erhielt. Das Wort Gefahr drängte sich in Eves Bewusstsein. „Ich bin Dave."

„Na schön, Dave", sagte Eve gepresst. „Was willst du hier?"

„Du bist mir aufgefallen", sagte Dave.

„Du mir auch." Die Ähnlichkeit zwischen Dave und seinem verstorbenen Bruder war verblüffend. Schon auf der Beerdigung hatte er ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie fühlte sich bei seinem Anblick, als würde sie vor einem tiefen Abgrund stehen. Jamie hätte nicht sterben müssen, wenn sie sich anders entschieden hätte. „Auf der Beerdigung."

Daves Gesichtszüge hellten sich merklich auf. „Ah, schon kommen wir der Sache näher."

„Du bist wegen Jamie hier?" Eve konnte ihre Verblüffung nicht unterdrücken und sah ihn mit offenem Mund an. Sie hatte so gehofft, sich deswegen zu irren. Jeder in der Stadt wollte Antworten, doch auf manche wusste sie selbst keine. Erst recht keine, die sie mit Vernunft erklären konnte.

In Erwartung eines längeren Gesprächs verfiel Eve in einen langsamen Trott. Dave folgte ihr und beide schlenderten die von schattenspendenden Bäumen gesäumte Straße entlang.

„Nehmen wir an, ich möchte herausfinden, was geschehen ist", sagte Dave, als sie ungestört reden konnten. „Was sagst du dazu?"

Eve widerstrebte der Gedanke. Sie mochte es gar nicht, alte Wunden wieder aufzureißen. Jamies plötzliches Ableben war ein Ereignis von vielen gewesen, wodurch ihre Weltordnung gehörig aus den Fugen geraten war. Glücklicherweise konnte Tod es so deichseln, dass es wie ein plötzlicher Herztod ausgesehen hatte. Andernfalls wäre sie ziemlich in Erklärungsnot gewesen, da er in ihrem Beisein gestorben war.

„Das solltest du denen überlassen, die was davon verstehen", sagte Eve abwehrend.

„Wer sagt, dass die besser sind als ich?"

„Du bist bei der Polizei?"

„Nicht direkt. Aber ich arbeite sozusagen unermüdlich an der Aufklärung der mysteriösen Verbrechen in Whitehurst Bay. Da du mit Jamie zusammen warst, stehst du ganz oben auf meiner Liste."

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