Der erste Tunnel

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Zukunftsvisionen, meist dystopischer Art, sind momentan total im Trend und bemühen sich in der Regel darum, gesellschaftskritisch zu sein, auch wenn das nicht in jedem Fall gelingt.

»Der erste Tunnel« von ChrisPraptor reiht sich in die aktuelle Überproduktion des Genres ein, ist aber auf Wattpad in der Kategorie »Spirituelles« zu finden, eine Tatsache, die mich sowohl vorm Lesen stutzig gemacht hat als auch hinterher immer noch nicht ganz passen mag, trotz Selbstfindung als zentralem Motiv, welche den Protagonisten Noah vor eine große Herausforderung stellt.

Doch bevor der Leser überhaupt weiß, wen er durch die mit fünf Kapiteln (oder eher Abschnitten) doch recht kurze Handlung begleiten darf, wird er erst einmal mitten ins nur sporadisch beschriebene Getümmel geworfen, in die noch nicht näher beschriebenen Tunnel, wo ein Mann seit Jahren ums Überleben kämpft, sowohl gegen den Hunger, als auch irgendwelche Monster.

Zunächst ist man verwirrt, dann wird die Situation aufgeklärt und man erfährt, dass es sich bei den Geschichten aus den Tunneln um Texte handelt, die immer wieder auf einem Tablet auftauchen, dem von Noah um genau zu sein, einem Jugendlichen, der scheinbar in einer Welt ohne Sorgen aufwächst, sich jedoch nicht von dem mysteriösen Geschriebenen lösen kann, welches unter dem Titel »Leid ist schön« immer wieder neu erscheint.

Während er immer weiter mit dem »struggle for life« des Namenlosen konfrontiert wird, rücken langsam aber sicher Familienleben sowie schulische Leistung in den Hintergrund und auch sein Gedankengut verändert sich, geht nicht mehr mit dem, was der utopische Staat für wünschenswert hält, konform.

Es scheint sich hierbei also um den klassischen Konflikt einer Dystopie zu handeln, denn seien wir mal ehrlich, dass der totalitäre Staat, in dem Noah da lebt, nicht das Nonplusultra ist, sollte jedem Leser nach kurzer Zeit klar sein. Allerdings verspricht zumindest der Anfang des Romans eine Geschichte, die das Altbekannte auf angenehme, unterhaltsame Weise neu verpackt und natürlich fühlt man sich auch dazu geneigt, herauszufinden, was es mit den Tunneln auf sich hat.

Die Einarbeitung der dort stattfindenden Szenen ist eine große Stärke des Buches, die mir zunächst so viel versprochen hat. Es gibt weder eine Formatierung der Schrift, noch Anführungszeichen, die signalisieren, wo diese anfangen und enden. Dennoch ist dies mehr als deutlich, denn während Noah als Ich-Erzähler fungiert, wird im Tunnel zu einem personalen Erzähler in der dritten Person gewechselt. Zudem findet sich hier ein, wie eben schon erwähnt, sporadischer Stil, der nur über das Nötigste informiert, der sprunghaft ist und somit eher einer Traumsequenz gleicht, was nicht nur für einen klaren Unterschied sorgt, sondern vor allem zu Spekulationen anregt.

Doch wo auf dieses Element anscheinend ein großer Fokus gelegt wurde, leidet der Rest darunter. Zwar ist ein solider Schreibstil die gesamte Zeit über vorhanden, doch eine dem Alter des Protagonisten angemessene Sprache allein reicht nicht aus, um einen Text authentisch zu machen. Für einen personalen Erzähler, vor allem in der ersten Person, fehlt es massiv an innerer Handlung, wodurch Noah als Charakter blass bleibt und man sich nicht im Geringsten für ihn interessiert. Man muss eine Hauptfigur nicht zwingend sympathisch finden, egal sollte sie einem dennoch nicht sein, was aber hier der Fall war. Alle weiteren Akteure sind infolge dessen ebenso formlos, agieren nur in der ihnen per Namensschild zugewiesenen Rolle und verhindern so das Zustandekommen einer dynamischen Handlung.

Das fällt allerdings nicht großartig auf in Anbetracht dessen, dass ein Spannungsbogen ohnehin nicht vorhanden ist und ein Mittelteil quasi übersprungen wird. Es gibt keinen Konflikt, keine Charakterentwicklung und im Grunde geschieht auch recht wenig, bis auf den plötzlichen Versuch einer Aufklärung am Ende.

Nun, ich denke nicht, dass eine Geschichte ohne Spannungsbogen per se nicht funktionieren kann, vor allem nicht, wenn sie sehr kurz ist, aber dann ist stattdessen ein anderer Gehalt erforderlich, respektive ein zum Denken anregender Inhalt, der mithilfe eines fiktiven Szenarios irgendeine Problematik erörtert.

Nach so etwas, wahrscheinlich philosophischer oder einfach nur gesellschaftskritischer Natur, habe ich während des Lesens leider vergeblich Ausschau halten müssen. Sogar das Worldbuilding weist schon immense Lücken auf, da einfach nicht ersichtlich wird, wie die beschriebene Gesellschaft denn so perfekt sein kann, wie Menschen, die Altruismus als nicht existent ansehen (Anmerkung hier für den Autor: wenn es in einem Gedankenexperimente nur zwei Lösungswege gibt, gibt es auch nur zwei Lösungswege und sich einen weiteren auszudenken, bedeutet, sich der Entscheidung zu entziehen, was wohl nicht ist, was mit Noahs selbstloser Entscheidung ausgesagt werden soll) überhaupt harmonisch zusammenleben können, denn die totalitäre Herrscherin wird dargestellt, als opfere sie sich für alle auf. Hier bahnt sich also ein Widerspruch an, dem aus dem Weg gegangen wird, indem letztlich gar keine Infos gegeben werden. So kann jedoch auch der Plot nicht funktionieren, denn es fehlen wichtige Anhaltspunkte, um die Entscheidungen, die Noah und die Statisten treffen, in einen Kontext zu setzen und so deren Bedeutsamkeit abzuwägen.

Wobei es gerade gegen Ende nur noch Noah ist, den man begleitet, in die Tunnel hinein, viel zu überstürzt sowie aus dem Zusammenhang gerissen, dafür, dass man keinen neuen Blickwinkel erlangt, denn durch »Leid ist schön« ist alles schon bekannt, denn es folgt keine klärende Antwort, sondern nur wirres Geschwurbel und ich vermute, dass die Geschichte Johannas von Orléans aufgegriffen wird, bin mir, was das angeht, aber nicht zu hundert Prozent sicher.

Heißt das also, dass die Menschheit Märtyrer braucht? Dass man Leid braucht, um lebensfähig zu bleiben? Dass man Leid braucht, um sich zu entwickeln? Ist der Kampf in den Tunneln der »struggle for life« aus Darwin Evolutionstheorie, nur sehr frei und falsch interpretiert?

Wer solche Thesen indirekt in den Raum stellt, sollte sie auch weiterentwickeln, denn in der momentanen Form sind alle Ansätze, die ich mit Biegen und Brechen in den Text hineininterpretieren kann, nicht im Geringsten ausgeführt. So funktioniert Philosophie nicht. So funktioniert keine Art des argumentativen Vorgehens und das Geschriebene bleibt ohne Aussage, Sinn und Nutzen, denn von einem möglichen Unterhaltungsfaktor, den es am Anfang noch gab, hat man sich zu diesem Zeitpunkt schon längst gelöst.

Eine willkürliche göttliche Macht, die im letzten Abschnitt namentlich erwähnt wird, macht das Ganze nur noch schlimmer und zeugt eher von einem unreflektierten oder auch faulen Autor, der entweder nicht in der Lage ist, sich zu erklären oder es einfach nicht will.

»Der erste Tunnel« ist ein Werk, das einen ziemlich interessanten Ansatz aufweist, der dann aber gnadenlos in den Wind geschossen wird. Alles Weitere ist unausgereift und nicht nachvollziehbar. Unverständlichkeit spricht nicht für Komplexität, eher im Gegenteil.

Im Endrésumé finde ich als einzig positiven Punkt, der mir im Gedächtnis haftet, den flüssig zu lesenden, wenn auch nicht hervorstechenden, Schreibstil vor, während der Frust darüber, was alles an Potenzial verschenkt wurde, überwiegt. Das geht deutlich besser.

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