#4 || Nicht allein

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Ein...
Aus...

Tief atme ich durch, versuche irgendwie dieses merkwürdige Gefühl in meinem Inneren zu begreifen. Dieser Druck, diese Benommenheit...

Ein...
Aus...

Die alte Frau ist tot, ihr Name steht klar und deutlich auf dem Grab. Halb vertrocknete, schneeweiße Blumen zieren eine steinernen Vase neben dem Denkmal.

Ein...
Aus...

Ich konnte Sasori nicht rächen.
Nicht seinen Tod und nicht den Schmerz seiner Kindheit.
Ich konnte gar nichts tun.

Ein...
Aus...

Ich bin zu spät.
Ich habe versagt. Und doch ist das nicht der Grund dafür, dass ich noch immer vor dem Grab im Sand knie und wie in Trance den Namen anstarre.
Das Gefühl meinen Meister enttäuscht zu haben rückt in weite Ferne, wird von einem anderen verdrängt.

Trauer.

Großmutter ist tot...
Die Frau, die Sasori groß gezogen hat.
Die Frau, die ihm das Puppenhandwerk beigebracht hat.
Die Frau, die seine ganze Familie war nachdem seine Eltern gestorben sind.

Sie hat Sasori verletzt. Mit ihren Lügen, ihren falschen Versprechungen und ich weiß, dass er sie dafür gehasst hat.
Nein...
Sasori hat gehasst was sie getan hat. Er hat die Lügen gehasst, nicht seine Großmutter.
Es war leicht für ihn, sie für alles verantwortlich zu machen, sich einzureden, dass sie an allem Schuld ist.
Es war leicht sie dafür zu hassen, dass seine Eltern tot und er allein ist.
Es war leicht, ihr die Schuld an seiner Einsamkeit und Zurückgezogenheit zu geben.

Es war so leicht...

Und dennoch...
Dieser Schmerz...
Diese Trauer...
Langsam senke ich den Blick auf den sandigen Boden. Einzelne kleine Tropfen fallen hinab, versickern im Wüstensand.

Sasori hat sie geliebt.

Sie war alles, was er gehabt hat.
Sie hat sich um ihn gekümmert, ihm ein Lächeln geschenkt auch, wenn es gespielt war. Sie hat sich dazu gezwungen ihren Schmerz zu verstecken und ihren Enkel groß zu ziehen. Sie hat versucht ihn mit ihren Lügen zu trösten.
Das alles war keine Schwäche...
Das alles war nicht bösartig...
Großmutter muss unglaublich stark gewesen sein, um nicht innerlich zu zerbrechen. Jeden Tag den kleinen Jungen an zu sehen, der sie so sehr an ihren verstorben Sohn - Sasori's Vater - erinnert haben muss.

Ich weiß, dass Sasori es nie zugegeben hätte.
Er hätte niemals gesagt, dass die alte Frau ihm doch etwas bedeutet.
Aber ich weiß es.
Ich spüre seinen Schmerz, seine Trauer.
Beinahe ist mir, als wären es seine Tränen, die mir über die Wangen laufen.
Als wären es seine Finger, die sich fest in den Stoff meiner Hose krallen, um nicht den Halt zu verlieren.
Als wäre es sein lautloses Schreien und Klagen, welches in meiner Kehle steckt und mir das Gefühl gibt zu ersticken.

"Wieso machst du denn nicht eine Marionette, ganz für dich allein?"
"Meine eigene Marionette?"

Ja.
Sasori hat sie geliebt.
Er war nicht allein auch, wenn er es immer dachte.
Großmutter war stets da, hat alles für ihn getan, alles für ihn gegeben.
Sogar ihr Leben...

Großmutter ist tot.

Sie ist fort, für immer.
Meine Rache ist hinfällig.

Nein... nicht ganz.

Mit noch immer wackeligen Beinen stehe ich auf, wische mir die Tränen von den Wangen.
Chiyo allein war nicht Schuld am Tod des rothaarigen Puppenspielers. Es gibt immernoch das Mädchen aus Konoha, die ich zur Rechenschaft ziehen kann.

Tief atme ich durch bevor ich die Augen schließe und mich vor dem Grabstein verbeuge.

"Danke, Großmutter. Danke für alles.", murmel ich leise.

Und es scheinen mir die Worte meines Meisters zu sein, die mir über die Lippen kommen.

Dann wende ich mich von dem Grab ab, setze mich wieder in Bewegung. Mein nächstes Ziel ist das Feuerreich. Bis dahin ist es eine gute Reise von drei Tagen. Vielleicht schaffe ich es in zweien anzukommen, da ich keine Pause brauche.
Ich verlasse eilig das Dorf an einer Stelle, die mir wenig bewacht vor kommt. Die Menschen, die an mir vorbeiziehen, nehmen mich kaum wahr und ich bin irgendwie froh darüber.
Nein... Freude ist der falsche Ausdruck. Eher ist es Erleichterung.
Ohne Probleme verlasse ich Suna-Gakure und als ich bereits eine halbe Stunde unterwegs bin, bleibe ich stehen.
Das Dorf ist noch zu sehen, mich umgibt heißer Wüstensand.
Doch nicht nur das.
Langsam drehe ich mich um, lasse meinen Blick über die Umgebung schweifen.
Ich werde verfolgt...
Und obwohl niemand zu sehen ist weiß ich, dass ich mich nicht irre.

Ich fühle es.

Meine geheime Begleitung ignorierend wende ich mich wieder um und gehe weiter. Eine weitere halbe Stunde vergeht ohne, dass etwas passiert.
Dann plötzlich erklingt eine Stimme hinter mir.

"Warte. Wer bist du?"

Die Stimme gehört einem Mädchen und ich bleibe stehen. Ich schließe für einen Moment die Augen bevor ich sie wieder öffne.
Ich muss nach Konoha. Eine Verzögerung kann ich mir nicht erlauben.

Meister Sasori wartet...

Ohne zu antworten fange ich wieder an zu gehen, doch weit komme ich nicht. Eine Bewegung links von mir lässt mich den Blick dorthin richten und mit einem kräftigen Sprung weiche ich den Kunai aus, die auf mich zu sausen.
Eine Marionette...
Kurz betrachte ich meinen Bruder aus Holz bevor ich den blauen Chakrafäden zu seinem Besitzer folge.

Und mein Herz anzuhalten scheint.

Vor mir steht ein Mädchen von vielleicht 17 Jahren. Die langen Haare, die unter der Kapuze ihres braunen Umhangs hervor schauen, sind von leuchtendem Rot und braune Augen mustern mich eingehend.

Im ersten Moment erinnert sie mich so stark an Sasori, dass ich augenblicklich einen Schritt auf sie zu gehe, ihr um den Hals fallen will.

"Halt!", befiehlt sie streng und ich gehorche.

Das ist nicht Sasori...
Langsam lege ich den Kopf schief, betrachte das Mädchen eingehend.
Bei genauerer Begutachtung muss ich feststellen, dass sie sich nicht wirklich ähnlich sehen.
Die Haarfarbe, ja...
Doch ihr Gesicht ist schmaler, die Nase an der Spitze etwas abgerundeter, die Lippen voller. Auch der Ton ihrer Augen ist dunkler, eher so wie nasse Erde.
Und sie ist ein Mensch.

"Ich stelle dir die Frage noch einmal: Wer bist du? Und wieso schleichst du durch das Dorf?"

Ihre Stimme klingt fordernd während sie mich noch immer abschätzend betrachtet.
Langsam lasse ich meinen Kopf auf die andere Seite fallen.

"Das sind zwei Fragen.", merke ich an, was das Mädchen verstimmt die Augenbrauen zusammenziehen lässt.
"Das ist mir egal. Dann beantworte beide."
"Rabiya ist meine Name und ich bin gekommen, um zu töten."
"Was?"
"Ich sagte mein Name..."
"Ich habe dich schon verstanden!"
"Wieso fragst du dann nach?"
Blinzelnd betrachtet mich die Puppenspielerin irritiert während ich mit dem selben Ausdruck ihren Blick erwidere.

Seufzend schüttelt die Fremde den Kopf.
"Mein Gott, das ist doch... Hast du jemanden in Suna-Gakure verletzt?"
"Nein."
"Aber du hast gesagt..."
"Mein Ziel ist bereits verstorben. Ich war zu spät."
Langsam geht das Mädchen einen Schritt auf mich zu, ihr forschender Blick gleitet über meinen Körper.
"Du... Du bist eine Marionette...", murmelt sie leise.
In ihrer Stimme schwingt etwas mit, das ich nicht deuten kann.
Unglaube vielleicht.
Faszination womöglich.
Langsam nicke ich und die Rothaarige sieht sich schnell suchend um.
"Und du redest. Du...lebst."
Wieder nicke ich und in den dunklen Augen des Mädchens erscheint ein warmer Glanz. Fast schon scheinen sie zu funkeln und ihre Lippen verziehen sich zu einem breiten Lächeln.
"Das ist ja unglaublich!"

Püppchen, Püppchen - Die Rache [Wird überarbeitet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt