#6 || Bedürfnisse

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Langsam setzt sich Kitty neben mir auf, reibt sich verschlafen die Augen, doch mein Blick ist noch immer stur nach oben gerichtet. Über uns verblassen die Sterne und der Himmel wird langsam heller, während die Sonne am Horizont erscheint.   
Ich höre das Rascheln von Stoff, als das Mädchen meinen Mantel ein wenig von sich schiebt.
"Du bist noch da."
Kitty's Stimme ist leise und klingt fast ein bisschen ungläubig, was meinen Blick zu ihr wandern lässt.
Die langen glatten Haare sind ein wenig zerzaust, Sand klebt ihr an ihrer Wange sowie an den Armen und der Kleidung um ihren Körper.
Ich nicke leicht und das Mädchen runzelt nachdenklich die Stirn.
"Ich hatte das wirklich nicht erwartet. Ich dachte du bist fort, wenn ich aufwache. Dass du ohne mich gegangen bist."
"Wieso?"
Fast ist mir als würde sich der Blick ihrer ohnehin schon dunklen Augen noch mehr verfinstern als sie antwortet.
"Weil es schon immer so war."

"Meine Eltern sind früh gestorben...Sie waren auch die ersten, die ich mit Puppen ersetzt habe."

Meister Sasori war früh allein, an seiner Seite nur seine Großmutter und ihre Lügen.
Auch er wurde eines Tages verlassen, konnte das lange nicht ganz begreifen und nie richtig verarbeiten.
Diese kleine Bemerkung des Mädchens erinnert mich viel zu sehr an meinen Meister und lässt mein Herz zu schmerzhaft stechen, als dass ich etwas erwidern könnte.

Ohne weiter auf mich einzugehen erhebt sich die Puppenspielerin, klopft sich den Sand ab und greift schließlich nach dem Mantel am Boden, um ihn mir wieder zu geben. Als sie zuvor auch den Schmutz von dem braunen Stoff entfernen will und ihre Finger über das Kleidungsstück streichen, zieht sie nachdenklich die Augenbrauen zusammen und tastet über die Taschen.
"Schriftrollen?", fragt sie knapp und wirft mir einen interessierten Blick zu, doch ich nicke nur, erhebe mich ebenfalls und nehme ihr den Mantel ab.
Das geht sie nichts an.
Ich hoffe sie versteht das, hakt nicht weiter nach, doch genau das tut sie.
"Beschwörungsrollen?"
"Ja.", antworte ich ruhig, schlüpfe in den braunen Stoff.
"Ich dachte du bist eine Marionette, kein Puppenspieler."

Ja...
Genau das habe ich vor nicht all zu langer Zeit versucht Deidara klar zu machen, bevor ich dennoch ein paar Kunstwerke meines Meisters mit mir genommen habe.

"Ich bin eine Marionette - Kein Puppenspieler. Bevor ein Dilettant letztendlich die Arbeit des Meisters in die Hände bekommt sehe ich meine Brüder und Schwester lieber brennen."

Aber der Blonde hatte Recht.

Sasori's Kunst ist für die Ewigkeit bestimmt.

Und ich werde ihr zu dieser Ewigkeit verhelfen. Das ist das Mindeste was ich tun kann nachdem ich schon nicht in der Lage war ihn zu beschützen, als er es am meisten gebraucht hätte.

"Wir sollten weiter."

Ohne auf eine Reaktion ihrerseits zu warten setze ich mich wieder in Bewegung.
"Hey, Rabiya! Warte doch!"
Sie packt schnell ihre wenigen Sachen zusammen, um mir eilig zu folgen. Es dauert nicht lang und als sie mich eingeholt hat fährt sie sich mit den Fingern durch die Haare bevor sie mit gerunzelter Stirn zu mir sieht.
"Eine Puppe, die einem Puppenspieler sagt wo es lang geht. Das ich das mal erleben darf.", murmelt sie missbilligend und ich begegne ihrem Blick kühl.
"Gewöhne dich lieber schnell daran oder gehe zurück nach Hause. Ich bin nicht wie die anderen, ich lasse mich nicht kontrollieren."

Nicht mehr.
Nicht seit mein wahrer Meister tot ist.

Ich richte meinen Blick zurück nach vorne, versuche das Mädchen neben mir auszublenden.
Versuche das Bild von Sasori in meinem Kopf und den Schmerz in meiner Brust zu verdrängen.

"Ich gehe nicht zurück. Nicht ohne dich, Rabiya. Wir haben einen Deal.", murmelt Kitty ruhig.

Ja, diese Abmachung...
Irgendwie gefällt mir der Gedanke nicht, dass sie mich untersucht. Noch nie hat es mir etwas ausgemacht, aber bisher habe ich auch zuvor noch nie gefühlt.
Es war mir egal, ob Puppenspieler meine Waffen prüften, austauschten oder umstrukturierten.
Es war mir egal, ob sie mir Gifte einbauten oder irgendetwas anderes in mir änderten.
Es war.
Inzwischen stößt mich bereits der Gedanke ab, dass jemand anderes als Sasori mich berührt.
Dass irgendjemand seine Arbeit in mir zunichte machen könnte.
Er war mein Meister, wird es immer bleiben.

Der wichtigste und letzte Meister, den ich je hatte, denn nie wieder werde ich mich einem Puppenspieler anschließen.
Ich werde Sasori rächen und dann allein bleiben.
Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder jemandem so sehr vertrauen kann wie ihm.
Dass ich jemals wieder so sehr das Bedürfnis haben werde jemanden zu beschützen und ihm zu dienen.
Dass ich jemals wieder jemanden so sehr lieben werde wie den Rotschopf.

"Verrätst du mir jetzt was du in Konoha vor hast? Wen willst du töten?", reißt mich Kitty aus meinen Gedanken und ich werfe ihr einen kurzen Seitenblick zu.
Nun...
Ich kenne nicht ihren Namen, habe lediglich ihr Gesicht gespeichert.
"Ein Mädchen.", antworte ich deshalb knapp.
"Okay. Und wieso?"

Kann ich es ihr erzählen?

Kurz gehe ich meine Möglichkeiten durch, lege den Kopf ein wenig schief während ich darüber nachdenke.
Was habe ich schon zu verlieren?
Egal was sie tut oder sagt: ich werde mich nicht davon beeinflussen lassen.

"Rache."

Kitty neben mir scheint zu überlegen. Ich sehe ihre zusammengezogenen Augenbrauen im Augenwinkel und wie sie den Mund öffnet, um etwas zu sagen. Doch sie schließt ihn wieder ohne ein Wort, seufzt kurz und zuckt mit den Schultern.

"Gut, meinetwegen.", murmelt sie ruhig.

《》

Eine ganze Weile lang laufen wir schweigend nebeneinander her. Lediglich unsere Schritte sind zu hören und das Kauen des Mädchens, als sie sich zwischendrin etwas zu Essen in den Mund schiebt.

Nicht nur, dass Nahrungsaufnahme für mich nicht nachzuvollziehen und daher absolut lästig und unnötig ist.
Nein, Kitty kaut laut.
Sehr.
Missbilligend ziehe ich die Augenbrauen zusammen und atme tief durch.
"Was ist?", fragt die Puppenspielerin bevor sie sich erneut ein Stück irgendeines Gebäcks in den Mund steckt und für meinen Geschmack um einiges zu laut darauf herum kaut.
Ja, was ist?
Dieses Geräusch ist furchtbar nervig...
Ich glaube noch nie habe ich es als so störend empfunden, dass ein Mensch gegessen hat.
Oder auch andere menschliche Bedürfnisse wie Schlaf. Ungeduld hat mich letzte Nacht gequält und ich glaube langsam zu verstehen, wieso Sasori einige Male von Deidara genervt war.

Menschen sind nervtötend.
Alle.
Ausnahmslos, wie mir scheint.

"Nichts.", lüge ich leise und seufze tief.

Ich brauche sie nicht darauf hinzuweisen, denn schließlich kann sie ihre Bedürfnisse nicht einfach so ausschalten.

Kein Mensch kann das.

Keiner außer Sasori.
Er hat es geschafft diese nervtötenden Bedürfnisse loszuwerden, seinen Körper beinahe perfekt zu machen...
Auch, wenn er sich noch immer selbst gequält hat mit seinen Gedanken, seinen Emotionen. Er hat gelitten, viel zu lang, und ich konnte ihm kaum helfen.

Irgendwie hat Sasori es geschafft, sich von diesen zerbrechlichen Wesen zu distanzieren, ihre Laster zumindest ein Stück weit hinter sich zu lassen...

Aber Kitty ist nicht Sasori.

Sie wird es nie sein.

Püppchen, Püppchen - Die Rache [Wird überarbeitet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt