1. Guten Morgen! Gleich wird dich eine Bande überfallen

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Der Tag fing ziemlich normal an. Magnus schlief auf dem Gehweg unter einer Brücke in der Nähe eines Parkes, als ihn ein Typ mit Tritten weckte und sagte: "Großer, du musst hier weg."
Es war nichts ungewöhnliches so geweckt zu werden, wenn man so gut wie sein ganzes Leben auf der Straße verbracht hatte.

Einige von euch denken jetzt vielleicht: Oh, wie traurig. Andere denken, ha, ha, Versager! Aber wenn ihr ihn auf der Straße sehen könntet, würden neunundneunzig Prozent an ihm vorbeilaufen, als wäre er unsichtbar. Ihr würdet beten, mach, dass er mich nicht um Geld bittet. Ihr würdet euch vielleicht fragen ob er älter ist, als er aussieht, denn ein Teenager kann doch wohl nicht mitten im New Yorker Winter in einem stinkenden alten Schlafsack unter freiem Himmel pennen. Irgendjemand muss dem armen doch helfen und nach ihm suchen!
Und dann würdet ihr weiter gehen.
Aber das macht nichts. Irgendwann gewöhnt man sich daran verspottet und besonders ignoriert zu werden.

Man gewöhnte sich genau so, wie Magnus es tat.
Er war mit seinem 17 Jahren definitiv noch noch nicht erwachsen und wurde Aufgrund seines Aussehen oft mals einige Jahre jünger eingschätzt.
Und nun wieder zurück zum Anfang.

Der Penner, der ihn geweckt hatte, war ein Typ namens Ragnor. Wie immer sah er aus wie sieben Tage Regen und die grünen Haare standen zerzaust von seinem Kopf ab. Sein Gesicht hingegen war glattrasiert, denn es war Samstag. Am Saum seines Mantels klebte Schnee und seine Schuhe waren durchnässt, die Sohle löste sich schon leicht an der Spitze. Er sah alamiert aus und schaffte es gleichzeitig grimmig drein zu blicken.
Magnus blinzelte sich den Schlaf aus seinen Augen und wischte sich mit einer Hand durch das Gesicht. Sein Mund schmeckte wie die Pizza von Vortag. Sein Schlafsack war warm und er wollte ihn auf keinen Fall verlassen.
"Warum muss ich weg?"
"Weiß nicht genau, aber alle packen und verziehen sich grad." Ragnor fuhr sich durch seine zerzausten Haare, was nicht wirklich viel brachte.
Magnus fluchte. Mit irgendwelchen Inspektoren, die auf Schulschwänzer Jagt machten, wurde er leicht fertig. Er besaß einen Ausweis, sein ganzer Stolz, und war technisch gesehen mit seinen fast achtzehn Jahren nicht mehr verpflichtet in die Schule gehen zu müssen. Um ehrlich zu sein hatte er aber nie eine besucht.
Mit College Studenten, die, testosterongeladen wie sie nun einmal waren, gern herum pöbelten und versuchten Magnus ab und an eine zu verpassen, kam er auch noch klar. Junkies hingegen waren so problematisch, wie die morgendliche Beschaffung von Waffeln und Orangensaft.
Die Spitze von all dem besetzte allerdings Polizei und Parkwache, die, war man nicht schnell genug, ab und an mal für sehr unangenehme Aufeinandertreffen sorgten. Doch nichts war so schlimm wie die Gangs,  die ihr Territorium verteidigten. Und dem hektischen packen der anderen nach zu urteilen schien genau dies der Fall zu sein. Den Taten der anderen folgend, packte auch Magnus seine Sachen zusammen, was ungefähr fünf Sekunden dauerte. Der Schlafsack ließ sich fest zusammen rollten und passte mit Zahnbürste, Zahnpasta und einem Satz Unterwäsche in seinen Rucksack. Abgesehen von dem Ausweis und der Kleidung an seinem Leib, war dies alles, was er besaß. Theoretisch viel er nicht einmal in der Fußgängerzone auf, denn es gab weit aus heruntergekommenere Leute, die sogar aufs College gingen. Magnus wusste, dass er recht gut aussah, doch bemerkt wurde er deswegen dennoch nicht. Er bafand sich, so wie einige andere, auf der untersten Ebene der Gesellschaft. Gutes Aussehen half dort nur beim anschaffen, doch von dieser Szene hielt er sich fern und machte zusätzlich noch einen Bogen um Dieler und Gangs. Soetwas endete nie gut.
"Hast du sie gesehen?", fragte er Ragnor, als er seinen Rucksack schulterte und sich zu seinem grünhaarigen Freund drehte. Der Altersunterschied von etwas über zwanzig Jahren spielte da keine Rolle.
"Ja, etwa drei Blolcks von hier entfernt. Die sind auf dem Weg hier her. Weißer Kerl mit blonden Haaren und nem Haufen tätowierter Typen, definitiv das Morgenstern Pack. Bringt nur Ärger."
Magnus runzelte verwundert die Stirn. "Und was wollen die hier? Ich kapier das..."
"Weiß ich auch nicht, großer, aber ich verzieh mich lieber." Ragnor sah,  halb genervt, halb nervös hinter sich.
"Sprich doch mal mit Cat. Die hängt bei dem nächsten Obdachlosenheim und kümmert sich vermutlich um die schlimm kranken."
Magnus versuchte nicht wütend zu werden, obwohl Ragnor ihn absichtlich ignorierte. Die Leute auf der Straße nannten Catarina und Ragnor immer seine Mom und seinen Dad. Im Scherz, verstand sich. Sie schienen sich das behüten des Jungen, mittlerweile Jugendlichen oder fast Erwachsenen, zur Aufgabe gemacht zu haben.
"Danke für die Info Kohlkopf", brummte Magnus. "Aber ich komme schon allein klar."
Ragnor funkelte den Jungen vor sich an und versuchte grimmig auf ihn herab zu gucken, obwohl dieser um einiges größer war. "Wasch dir dein vorlautes Mundwerk mit Seife! Du gehst zu Cat und damit Ende der Diskussion. Heute ist kein guter Tag, um allein durch die Straßen zu spazieren.
"Warum?"
"Keine Ahnung und jetzt hör endlich auf mich zu nerven. Sie kommen." Ragnor deutete auf eine Stelle hinter Magnus, doch als dieser sich umdrehte, konnte er niemanden erkennen. Seinen Blick zurück zu Ragnor wendend, fand er einen leeren Platz auf. Magnus fand es furchtbar nervig, wenn der Grünschopf einfach -puff- verschwand. Fast so, als hätte er sich weg teleportiert. Das musste es sein! Ragnor war ein Hexenmeister. Ein Obdachloser Hexenmeister mit Kohlkopf. Ziemlich stillos, dieses grün in den Haaren. Cat hatte mit ihrer Wahl für einen blauen Haarton dort schon eine weitaus bessere Entscheidung getroffen. Apropos Catarina. Magnus hatte immer noch einige Möglichkeiten, die er anstelle eines Besuches machen könnte. Doch zuerst nahm er die Beine in die Hand und ließ seinen Schlafplatz zurück, um die Richtung des Parkes einzuschlagen. Sein Magen knurrte bereits, und in der Nähe des Parkes befand sich ein Einkaufshaus, was Geld und Essen bedeutete.
Ja, es war nicht ganz ehrenhaft, wie Magnus sich das Geld beschaffte, doch er war ein hervorragender Taschendieb. Er hatte aber auch zwölf Jahre Übung und Erfahrung.
Als er sich den Weg durch den Park bahnte, biss er seine Zähne fest zusammen und blinzelte ab und an. Der Schnee am Boden und der Himmel waren so weiß , dass es ihm schon fast Kopfschmerzen bereitete. Der eisige Wind ging zusätzlich durch so gut wie jede seiner Kleidungsschichten hindurch, was, im Gegensatz zum grellen weiß, aber kein Problem darstellte. Er war abgehärtet und fror selten, weshalb ihn einige beneideten. Diese Gabe war durchaus nützlich, wenn man die Nächte in einem Schlafsack auf dem Boden verbrachte. Nur selten hatte er die Möglichkeit im Warmen unter zu kommen, und viele erfroren im harten Wintern auch einfach auf der Straße. Man bekam im Leben nun einmal nichts geschenkt, doch Magnus liebte es zu träumen.
In dem Einkaufszentrum angekommen atmete er durch und ließ seinen Blick über die Menge gleiten. Es war, dank der Klimaanlage, schön warm, weshalb er glücklich seufzte und sich eine gepolsterte Sitzinsel zum lesen suchte. Die Modekataloge und Zeitschriften, die frei zum lesen herum lagen, interessierten ihn am meisten. Auch wenn Magnus sich nichts in Punkto Kleidung leisten konnte, wusste er dennoch dennoch über die neusten Trends bescheid und hatte durchaus Geschmack. Er mochte es sich vorzustellen, wie er eines Tages seine eigene Boutique aufmachte und die Leute ihm die Türen einliefen. Doch er blieb realistisch. Vermutlich würde er eher auf einer Parkbank erfrieren, als sich auch nur einen Anzug leisten zu können, geschweige denn einen Laden zu führen. Er verstand sowieso nicht viel von Rechten, Papieren oder Management.
"Hey Magnus!" Eine fröhliche Stimme ertönte neben ihm, weshalb er die Zeitschrift in seinen Händen sinken ließ und sich nach rechts drehte. Sein Lieblingsrotschopf saß auf dem Platz neben ihm und hielt Zeichenblock sowie Stifte in der Hand.
"Hallo Biscuit", sagte er lächelnd. Clary, so hieß das rothaarige Mädchen, grinste ihren besten Freund glücklich an.
"Wir geht es deiner Familie?" Magnus hatte seine Zeitschrift nun endgültig zusammengeklappt und sah Clary beim zeichnen zu.
"Ach, ganz gut. Simon nörgeln zwar ordentlich herum, Rebecca wohnt immer noch bei uns und Mom arbeitet viel, aber ansonsten gehts. Sie fragt nach dir." Clary lebte mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer großen Schwester in einer winzigen Wohnung etwas außerhalb. Sie hatte ihre Familie zu schätzen gelernt seit sie Magnus kannte. Das schmerzhafte Glitzern in seinen Augen ließ sie immer sehen, wie gut sie es hatte. Seufzend klappte Clary ihr Zeichenblock zusammen und sah lächelnd zu Magnus. Sie hatte etwas vor, das ihm hoffentlich ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
"Ich hab ne Überraschung für dich."

Magnus sah verwirrt zu Clary, die ihren Rucksack an sich zog und eine mittelgroße, schwarze Plastiktüte heraus zog.
"Alles gute zum Geburtstag und ja, ich weiß du hast erst in drei Tagen, aber ich konnte nicht länger warten." Sie drückte Magnus die Tüte in die Hand, welcher sprachlos zwischen dem Geschenk und Clary hin und her sah.
"Na los, mach schon auf", drängte sie ihren besten Freund, was Magnus noch nervöser machte als er endlich die Tüte öffnete. Er griff nach einem weichen Stoff, und zog einen türkisfarbenen Pullover mit der Aufschrift blink if you think I'm sexy heraus.
"Clary, bist du wahnsinnig?", schimpfte er mit großen Augen, die freudig glänzten. Das war der Ausdruck, den Clary sehen wollte. Sie mochte es, wenn Magnus den schmerzhaften Ausdruck aus seinen Augen verlor.
"Das muss dich ewiges sparen gekoster haben! Ich kann das nicht annehmen."
"Und ob du kannst. Keine Wiederrede. Mom hat auch etwas dazu gelegt, also keine Sorge." Sie lächelte glücklich als Magnus seufzte, sich aus seiner abgewetzten Jacke schälte, den alten, gelben, Pastellfarbenen Kapuzenpullover auszog und in den neuen von Clary schlüpfte. Er sprang auf, packte Clary, hob sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis.
"Danke Liebes." Magnus Gesichtsausdruck veranlasste Clary dazu ihn in eine enge Umarmung zu ziehen. Sie interessierte es nicht wie Magnus roch oder der Fakt, dass er jede Nacht unter einer Brücke verbrachte. Sie war seine beste Freundin und sie liebte Magnus so ausnahmslos, wie sie ihre Familie liebte. Doch sie wusste, dass sie Magnus nicht geben konnte, was er brauchte und sie konnte auch nicht die Wunden heilen, die die Zeit bei ihm angerichtet hatte. Und es brach ihr das Herz ihn im Arm zu halten, zitternd, weil er gegen die Tränen ankämpfte, denn er wusste, dass er kaum Perspektive hatte. Und der Straße entkam man so gut wie nie.
"Wir sollten bei Ed mal vorbei schauen, was zu Essen holen und dir dann einen vernünftigen Haarschnitt verpassen", murmelte Clary in Magnus Schulter, welcher daraufhin nickte.
"Gute Idee, Biscuit."

Die Straßen von New York *In Bearbeitung*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt