Challenge Nr. 1

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„Leica, hast du denn eine Lösung für diese Aufgabe."

Ich tauche auf. Auf aus einer anderen Welt, die einzig und allein für mich verständlich ist und zu der niemand sonst Zugang besitzt, ziemlich unsanft und mit einem Zucken meines gesamten Körpers.

Meine Mathelehrerin hält den Blick auf mich gerichtet.

Ein schnelles Kopfschütteln meinerseits ist die Antwort, die sie vermutlich sowieso längst erwartet hat.

Zwei Wochen sind seit Bettys Brief nun vergangen, zwei Wochen seitdem ich ihn zum ersten Mal gelesen habe. Den Brief. Inzwischen kann ich beinahe jedes Wort in und auswendig und selbst in Momenten wie diesen, in denen meine Gedanken ihre Worte lediglich streifen, so ist es doch als würde meine kleine, heile Welt erneut zusammen brechen und ich empfinde diesen unaufhörlich Schmerz tief in meinem Herzen.

Meine Lehrerin fährt mit dem Unterricht fort, als wäre nichts geschehen, als wäre meine immer wiederkehrende Reaktion vollkommen normal, ich mit den teilweise verwirrendsten und unerklärlichsten Gedankengängen.

Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, doch mit Mathe hat das alles garantiert nichts zu tun.

Ich kann nicht an Zahlen, Formeln und Rechenwege denken, wenn meine Gedanken nur um eine einzige Person kreisen - dauerhaft - Betty.

Mental und psychisch nagt das an mir tagtäglich, doch ich schaffe es nicht aufzutauchen und auch nur halbwegs an der Realität teilzunehmen, ich bin in meiner eigenen Welt gefangen, in meinem trauernden Herzen und bin so vollkommen unfähig mich an die Oberfläche, in die Wirklichkeit zu kämpfen, wenigstens für ein paar Stunden.

Selbst in der Schule bin ich abwesend - ständig und ich weiß selbst nur zu gut, dass Bettys größte Angst damit Realität wird.

Ich falle zurück in mein Schema, dass sich Schweigen nennt und welches mir den Rückzug aus der Wirklichkeit garantiert.

Betty hat meine Anfälle stets als Träumerchen-Attacken bezeichnet, doch so harmlos ist das alles nicht, weil man wahrlich darin unter gehen kann.

Andere Menschen würden wohl in eine Essstörung verfallen, wieder andere würden zu nehmen, die nächsten hätten deutliche Anzeichen von Angstzuständen oder Aggressionen aufzuweisen.

Von all dem habe ich nichts, weil sich mein Körper ganz eigene Methoden angeeignet hatte, um sich von der Umwelt abzuschirmen.

Mein Schweigen, meine Abwesenheit habe ich zumeist gut unter Kontrolle, vermutlich zu gut, weil niemand nur die geringste Chance hat mich zu durchbrechen.

Genauso wie meine Mathelehrerin, sie versucht mich zum Reden nahezu zu zwingen doch ich reagiere nicht, wenn ich es nicht von mir aus will. Es gibt durchaus Stunden, in denen ich mich melde und meine Antworten herunter rattere, Mathe ist schließlich mein Lieblingsfach, doch dann gibt es wieder die Momente die mich, wie Betty sie liebevoll bezeichnete, in meinen Träumerchen Modus befördern.

Die Sache ist die, ich bin schon immer eine Tagträumerin gewesen und würde das vermutlich auch für immer bleiben, jedoch ist entscheidend was ich da träume und zur Zeit ist das, was meinen geistigen Zustand betrifft, nicht besonders fördernd.

Es klingelt und zum wiederholten Male werde ich an diesem Tag zurück in die Realität gerissen unsanft und nur für einen winzigen Moment, denn ich falle zurück ehe es jemand realisieren kann, ehe ich es selbst realisieren kann.

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