9. Antwort

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Meine liebste Betty,

ich falle zurück ohne irgendwie richtig etwas dagegen tun zu können. Ich werde ans Ufer gespült, wie ein totes Tier, das keine Chance mehr hat sich zu wehren, ein Lebewesen, welches den Kräften der Natur vollkommen unterworfen ist. Verzweifelt versuche ich mich an jenen Dingen festzuhalten, die eigentlich so stabil wirkten, alles bricht in sich zusammen. Das Leben, welches ich mir seit deinem Tod aufgebaut habe ist ein einziges Chaos, bestehend aus vergänglichen Dingen, die keinen Sturm, kein Unwetter aushalten, die zusammenklappen, als hätte es sie nie gegeben. Ich dachte tatsächlich es würde aufwärts gehen, ich habe daran geglaubt, dass Philipp mich wenigstens ein wenig stützen könnte. Nicht dich ersetzten natürlich, vielmehr mir helfen über dich hinwegzukommen. Es hat nicht funktioniert, es wird niemals funktionieren. Die ernüchternde Erkenntnis, dass zwei halbe Menschen keinen Ganzen ergeben. Noch viel mehr, dass ein Ganzer Mensch, einen kaputten nicht wieder ganz machen kann.

Dinge, die ich rein theoretisch wissen sollte, im praktischen Alltag ist es doch leicht drauf hereinzufallen. Dann, wenn man erkennt, das man selbst nicht so stark ist, wie eigentlich gedacht und es dem Teufel ein leichtes ist Dinge, die kein festes Fundament besitzen binnen Sekunden zu zerstören. 

Gott ist das einzig feste Fundament, der Fels, der niemals zerstört werden kann. Der steht, fest, unerschütterlich, der da ist und der mich hält, an dem ich mich festhalten kann, aber wie soll ich mich an einem Felsen festhalten, von dem ich mich die letzten Wochen so sehr distanziert habe, dass er nur noch verschwommen vor meinen Augen erscheint, es mir schwer fällt ihn zu fixieren, geschweige denn ihn richtig erkennen zu können? Mich sogar daran festzuhalten? Mit der letzten Kraft die ich noch habe?

Viel zu sehr habe ich mich auf Philipp fokussiert, habe meinen Blick auf ihn gerichtet, anstatt auf meinen großen, liebenden Gott. Ich bin nicht gerannt, ihm entgegen, strebend nach seiner Gegenwart und seiner Heiligkeit. Nein, ich bin langsamer geworden, bin beinahe stehengeblieben. Mein Blick ist abgeschweift vom eigentlichen Ziel und der Teufel hat gekonnt verhindert wieder da hinzuschauen, wo die Musik eigentlich spielt.

Stattdessen spielte zum ersten Mal ein Junge in meinem Leben mit, gewann von einem Moment auf den anderen viel zu viel an Bedeutung. Ich bin hineingestürzt, abgelenkt, trauernd und habe dabei vergessen wer ich selbst bin und wer ich in Gott bin und was das Fundament einer jeder Beziehung und meiner selbst ist.

"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand. Das ist das erste und wichtigste Gebot. Ebenso wichtig ist aber ein zweites: ›Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst."

Zuerst Gott lieben. Beziehung bauen, Zeit mit ihm verbringen, ihn an die oberste Stelle setzten, Priorität sein lassen. Schon allein darin habe ich versagt, habe vergessen, dass kein Mensch das schaffen kann, wofür Gott fähig ist. Kein Mensch kann mich heilen, vollkommen machen und mich aus jener Gefangenschaft befreien, die sich Trauer und Selbstzerstörung nennt.

Ich soll meinen Mitmenschen wie mich selbst lieben.

Den Mitmenschen lieben mag vielleicht nicht immer ganz einfach sein, bei Philipp war es jedoch genau das - einfach! Lieben, sich hingeben, vertrauen, vergessen.... Vergessen, dass es nicht nur auf diese Liebe gegenüber dem Mitmenschen ankommt, sondern zu verstehen, dass diese Liebe auf einer Selbstannahme und Selbstliebe aufbaut.

Die Frage ist aber, woher kommt diese Liebe, die ich da empfinde, für diesen Jungen namens Philipp. Woher kommt dieses Gefühl? Was bedeutet es zu lieben und sind in diesem Gebot der Liebe nicht ganze drei Dinge miteinander verknüpft?

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