4. Brief

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Guten Morgen liebe Leica,

möglicherweise ist es bei dir auch Mittag, oder Abend oder Nacht oder was auch immer für eine Tages oder Uhrzeit oder vielleicht befindest du dich auch gerade in irgendeinem Paralleluniversum in welchem es so etwas wie Ort- und Zeitangaben gar nicht gibt. Ich meine, das könnte rein theoretisch ja alles sein, zumal  das mit den Zeiten allgemeine eine komische Sache ist, ich frage mich manchmal was Gott für ein Zeitverständnis hat, vermutlich für mein kleines Gehirn aber sowieso nicht nachzuvollziehen, besonders nicht zu dieser Tageszeit.

Die Kirchturmglocke hat gerade fünf Uhr geschlagen, morgens wohl bemerkt, wobei es für manch ein Langschläfer auch mitten in der Nacht sein mag, aber bei mir ist es morgens, und das mache ich jetzt einfach mal an dem Zwitschern der Vögel draußen fest.

Warum ich so früh wach bin?

Das liegt wohl an meiner Zimmernachbarin, bei der Gerade der Pieps runter ist, oder wie auch immer dieses Gerät in den Krankenhäusern da heißt. Zum Glück Fehlalarm, alles paletti, sie schläft längst wieder tief und fest, ich hingegen bin bereits glock hell wach.

Gerade eben war ich ein wenig draußen spazieren, bis mich eine der Krankenschwestern erwischt und mich zurück geschickt hat. Glaube bloß nicht ich habe ihren Anweisungen sofort folge geleistet. Stattdessen habe ich mich in diesen Aufenthaltsraum der Krankenschwestern geschlichen, der gerade unbesetzt war, mir einen dieser weißen Kittel geklaut und habe ganz dreist selbst ein wenig Arzt gespielt. Du kannst mir glauben, es fühlt sich absolut cool an, fast so als wäre man ein einziges Mal im Leben schlau. Aber das ist es eigentlich gar nicht. Der Reiz besteht viel mehr darin, dass man als Arzt die Chance hat anderen Menschen das Leben zu retten, das ist unglaublich und selbst weiß ich auch, dass man den Menschen praktisch beim sterben zusehen muss, wenigstens ab und zu und allein deshalb zolle ich all diese Ärzten meine volle Anerkennung.

Ich selbst könnte diesen Beruf niemals ausüben, jedenfalls nicht länger als für ein paar Stunden und das nicht nur weil ich keine Leben retten kann, sondern auch weil Blut für mich etwas echt ekliges ist und um nochmal auf das Retten von Leben zurück zu kommen, in diesen exakt 25 Minuten habe ich ungefähr 7 medizinische Eingriffe bei verschiedensten Patienten durchgeführt, die jedes Mal auf das Erzählen von Gottes Botschaft hinaus liefen und ich wurde stolze fünf mal angeschrien, was ich hier eigentlich mache und ob ich bescheuert wäre und das Übliche eben und ganze zwei Mal wurde mir zugehört und weißt du was eine ältere Frau mit einem hübschen Lächeln zu mir sagte, als mich schließlich eine Krankenschwester entdeckte und ein mega Taram machte, ich wurde ziemlich unsanft aus dem Zimmer gezogen, ich bin mir sicher, den Abdruck ihrer grausam langen Fingernägel sieht man immer noch, rief mir die alte Frau noch zu:

Ich danke dir.  Danke für dein Gebet. Mir geht es schon wieder viel besser, auch wenn ich jetzt endlich weiß , dass ich keine Angst mehr vor dem Tod zu haben brauche."

Glaube mir, ein schöneres Geschenk kann es nicht geben. Nicht in meinen Augen. Ich habe mich so sehr über ihre Worte gefreut und ich freue mich immer noch. So sehr!

Warum ich allerdings angefangen habe diesen Brief zu schreiben, morgens um fünf Uhr, liegt an meiner Zimmernachbarin, einem kleinen, krebskranken Mädchen, Leukämie lasst grüßen, welches mir inzwischen sehr ans Herz gewachsen ist, wir beide sind praktisch Dr. Redcliffs Dauerpatienten, und welches mich gerade eben auf eine geniale neue Challenge gebracht hat. Ich bin immer noch ganz stolz auf mich und diese Idee und freue mich sie dir jetzt gleich mitteilen zu dürfen. Meine Finger kribbeln ganz schön, für mich ziemlich ungewohnt aber für dich vermutlich etwas alltägliches, weil du genau dieses Gefühl von deinen Poetry Slams her kennst. Jedenfalls entnehme ich das deinen Erzählungen.

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