6. Antwort

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Betty,

ich muss einfach mal kurz erzählen, erzählen und verarbeiten. Verarbeiten was ich ungefähr vor zwei Stunden erfahren habe, irgendwo in der hintersten Ecke einer Raststätte, mit einer riesigen Tasse Kaffee in der Hand und direkt mir gegenüber ein Junge mit braunen Locken, ohne Stimme, ohne Gehör, mit einer Mauer die riesiger nicht sein könnte und einem Loch, dass sich irgendwann irgendwie aufgetan hat. Das ich durchdringen durfte und das mich erfahren lies, was ich zuvor nie in Erwägung zog und was mir Klarheit verschaffen hat über so einiges, ganz besonders aber über Milenas Aufenthalt im Krankenhaus und deinen Tod, denn hängt das eine auf eine unfassbar absurde und nie gedachte Weise mit dem anderen zusammen.

Ich glaube so ganz habe ich es noch nicht kapiert, realisiert und verarbeitet schon gleich zweimal nicht. Momentan fahren meine Gefühle um ehrlich zu sein Achterbahn. Ich weiß nicht ob ich lachen soll, weil das ganze einfach nur absurd ist, ob ich heulen soll, weil mich plötzlich die Realität einholt, vor der ich so lange versucht habe zu flüchten und sie mir eine Wahrheit aufzeichnet, über die ich kaum nachzudenken wage. Vielleicht sollte ich auch einfach nur dasitzen und schreiben und mir versuchen irgendwie einen nur annähernd logischen Aufbau zu überlegen, denn wenn die Gedanken Achterbahn fahren, ist das bekanntlich so, dass diese springen, tanzen, sich im Kreis drehen. Dinge völlig zusammenhangslos einwerfen, gespickt mit Gefühlen, eigenen Ängsten, Wahrheiten und einer bitteren Realität, die durch das Ganze drum herum manchmal etwas vernachlässigt, überschattet wird.

Zurück auf Anfang!

Im letzten Brief habe ich über bevorstehendes Date geredet, philosophiert und mir mindestens tausend Gedanken darüber gemacht. Jenes Date, dass jetzt etwa vor deißig Minuten stattgefunden hat, mich nach wie vor vollkommen aus der Bahn wirft und definitiv so einiges von mir gefordert hat.

Erstens bin ich Auto gefahren. Betty, ich und Autofahren? Seit meiner Panikatacke habe ich mich in kein einziges Auto mehr getraut, aber bei Philipp war das irgendwie etwas anderes. Es ist verrückt wie wohl ich mich in seiner Gegenwart fühle. Wie okay es plötzlich ist Auto zu fahren. Mal langsam, mal schnell. Gleichmäßig, mitten über die Autobahn, während mir die Musik in den Ohren dröhnt, ich meine Lippen passend zum Text bewege und Philipp so gar keine Ahnung hat was Lautstärketechnisch in diesem Auto eigentlich abgeht. Es hat definitiv Vorteile einen Freund zu haben, der einfach mal nichts hören kann.

Schließlich haben wir geredet, in einer Autobahnraststätte bei einer Tasse Kaffee wie erwähnt. Anfangs über ganz alltägliche Dinge. Ich kann inzwischen tatsächlich stolz von mir behaupten, dass ich weiß, dass er Medizin studiert und seine Hobbys Badminton und Wandern sind. Langsam wurde das jedoch auch Zeit.

Manchmal, da kann ich Philipp nicht so richtig einschätzen. Ich mag ihm keine Frage. Sein Auftreten, seine zynische, gar spöttische Art. Das Zucken um seine Mundwinkel, der Glanz in seinen ausdrucksstarken Augen, seine sanften, bedachten Bewegungen. Die Worte, die nicht mit seinem Mund, sondern seiner Hand geformt werden. Er ist anders und er ist besonders und genau das hat seinen Reiz. Er ist anders, das sagte ich bereits und irgendwie ist er teilweise undurchschaubar. Da ist diese warme, fürsorgliche Seite. Die Seite, die mich rettet, als ich nach meiner Panikatacke irgendwo mitten auf der Straße gestrandet bin, heulend und mit den Nerven völlig am Ende. Die, die mich wieder zum Auto fahren bewegt, gegenüber der ich, ich sein kann, die Seite, die mir Briefe schreibt, mich zum Ausgehen einlädt, sich mit mir an einen Tisch setzt.

Und dann... tja, dann ist da irgendwie auch noch eine andere Seite. Eine Art die kalt und abweisend ist. Die dann zum Vorschein kommt, wenn man irgendwelche falschen Dinge anspricht. Bezogen auf seine Schwester irgendwie, ab und zu habe ich auch das Gefühl, dass es an etwas anderem liegt. Eine Mauer, die größer und fester nicht sein könnte, ein winziger Moment, in dem er sich abwendet, meinem Blick ausweicht und dann binnen Sekunden auf ein anderes Thema lenkt und damit verbunden auf die andere Seite. Fürsorglich, zuvorkommend, verständnisvoll.

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