Die erste Nacht ist vorbei.
Ich fühle mich wie ein neuer Mensch und das ist nicht positiv gemeint.
Mir fehlt jetzt etwas. Für manche mögen es nur Haare sein, aber für mich ist es viel mehr.
Bald wird mich jeder darauf ansprechen. Jeder, der noch nicht wusste was ich habe.
Meine Eltern haben versucht ihr Mitleid zu verbergen und sind kläglich dran gescheitert.
"Ramiro! Nina und Jim sind da!" werde ich am Vormittag gerufen. Ich kam nur kurz zum Frühstück raus aus meinem Zimmer.
Ámbar habe ich bisher noch nicht geantwortet. Sie hat nicht mal was mit der Situation zu tun, aber irgendwie kann ich im Moment nicht einen auf gute Laune machen.
"Schick sie hoch!" schreie ich zurück und hoffe das es unten angekommen ist.
Kurze Zeit später geht die Tür auf und meine beiden Freundinnen betreten mein Zimmer.
"Ist es nicht etwas warm für Wintermützen?" frage ich und zeige auf ihre Köpfe.
"Nein, auf dem Kopf ist es frisch." sagt Jim und die beiden setzen sich zu mir aufs Bett.
"Wenn das ein Witz sein sollte oder eine Anspielung auf meine Haare, dann war das echt schlecht." erwidere ich trocken.
"Mach mal deine Augen zu." fordert Nina mich auf.
"Warum?"
"Mach einmal was wir dir sagen." lacht Jim und ich schließe genervt meine Augen.
"Und jetzt mach sie auf." ordnet Nina an und ich schlage meine Augen wieder auf.
Vor mir sitzen Nina und Jimena. Beide haben ihre Mütze vom Kopf getan und mich trifft es wie ein Blitz.
"Das habt ihr nicht gemacht." sage ich ungläubig und halte mir die Hand vor den Mund.
Jim und Nina haben sich ebenfalls die Haare abrasiert.
"Wir sind deine Freunde, also stehen wir das gemeinsam durch." sagt Jim und ich schließe beide in eine feste Umarmung.
"Ihr seid bescheuert." grinse ich und ringe um Fassung.
Ich hab mit allem gerechnet, aber nicht damit.
Das beweist aber wiedermal wie stark unsere Freundschaft ist. Niemand kann uns auseinanderbringen.
"Was haben eure Eltern gesagt?" frage ich und löse die Umarmung.
"Meine waren zwar erst schockiert, haben mir dann aber gesagt wie mutig sie das von mir finden." teilt Jim uns mit.
"Papá hat mich gelobt, wie toll er das findet, während Mamá fast um meine Haare geweint hat."
"Ich liebe euch. Und ich danke euch für diese Geste, die ist unglaublich. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, das ich nicht gleich losweine. Das ist so süß von euch. Danke! Danke das es euch gibt!" bedanke ich mich und ziehe sie wieder in meine Arme.
Wir drei gegen den Rest der Welt!
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"Eigentlich kann ich euch nie wieder gehen lassen." sage ich und ziehe meine Freundinnen in eine letzte Umarmung.
Den heutigen Tag haben wir bei mir verbracht. Wir haben viel geredet.
Über die Chemo, die morgen beginnt.
Über die Zukunftspläne der beiden.
Über unsere tiefgründige Freundschaft, für die sogar Haare fallen müssen.Ohne die beiden wäre ich nichts mehr. Nichts, außer ein schwerkranker Junge.
Als mein Handy nun auch schon zum gefühlt hundertsten mal vibriert beschließe ich ranzugehen.
Es ist Ámbar, genau wie die Male zuvor.
"Hey." flüstere ich schon fast in den Hörer, da ich etwas Bammel vor ihrer Reaktion habe.
Ich glaube sie ist sauer, ich hab mich den ganzen Tag über nicht gemeldet.
Ihre Anrufe hab ich ebenfalls ignoriert.
"Hey, ich dachte schon du antwortest gar nicht mehr." erwidert sie ebenso bedrückt wie ich.
"Nein, ich wollte...Jim und Nina waren den ganzen Tag da und ich wollte nicht ständig am Handy hocken."
"Das hättest du doch schreiben können. Ich hab mir wirklich Sorgen gemacht."
"Das wollte ich nicht, wirklich nicht. Ich hoffe ich kann es wieder gut machen?"
"Ja, kannst du. Sing für mich. Ich will dich endlich mal singen hören." drängt sie mich.
"Später. Erstmal will ich noch wissen wie dein Tag so war."
"Nichts spektakuläres. Ich habe unseren Rasen gemäht."
"Und sieht er jetzt furchtbarer aus als vorher?" mache ich mich etwas lustig.
"Ich würde gern mal ein Vorher- Nachher- Bild von eurem Rasen haben, nachdem du gemäht hast." lacht sie zurück.
"John macht das immer für mich."
"Wer ist...Achsoooo, George ist immer zu faul dafür." macht sie unseren idiotischen Spaß mit.
Ich glaube die Beatles- Geschichte wird eine Tradition bei uns werden. Wenn es noch so lange geht.
"Tja, ich hab meinen wenigstens richtig erzogen."
"Deshalb raucht er Gras? So ist das also."
"Okay, du hast gewonnen, mir gehen die Argumente aus." gebe ich lachend auf.
"Sowas gewinnst du gegen mich nie, das hab ich dir doch schon mal gesagt."
"Wenn ich dafür dein Lachen höre gebe ich mich gern geschlagen."
"Ich kauf dir diesen Spruch sogar durchs Handy ab." kichert sie weiter.
"Das ist mein ernst. Dein Lachen ist goldwert Sonnenschein." mache ich ihr ein Kompliment.
"Ich freue mich, wenn ich wieder deinen Tag retten durfte."
"Du hast ihn gerettet. Wie auch jeden anderen Tag."
"Warum? Ist dein Leben wirklich so langweilig und beschissen, das es ein fremdes Mädchen braucht, was absoluten Mist erzählt damit du dich besser fühlst?"
Ihre Frage ist keinesfalls sarkastisch oder lustig gemeint. Sie spricht absolut ernst, so wie ich es erwartet habe..und so wie ich es wollte.
"Weißt du, es gibt Momente im Leben, da will man nicht mehr. Man verliert die Kraft und die Lust an allem, was man davor geliebt hat. Manchmal reicht nur ein Wort von der richtigen Person um alles zu vergessen und sich an seinem Leben wieder zu erfreuen. Das klingt jetzt vermutlich unrealistisch, aber so ist das bei mir. Du musst nur 'Hey' sagen und sofort bin ich ein anderer Mensch...okay, am besten du vergisst was ich gesagt habe...deswegen hasse ich es zu telefonieren, bei einer Sprachnachricht hätte ich einfach nochmal anfangen können, hier kann man nichts abbrechen und neu anfangen."
"Wenn du irgendwelche Probleme hast, worüber du mit mir reden willst...dann sag es mir, ja? Ich mag vielleicht nur ein fremdes Mädchen sein, aber ich will dir helfen. Also, wenn du was auf dem Herzen hast, egal was, dann zöger nicht mich anzurufen, oder zu schreiben...oder mir eine blöde Sprachnachricht zu schicken."
Am Ende lacht sie wieder.
Das Lachen, welches mich selber zum Lachen bringt.
"Danke."
Danke, das ich dich kennengelernt habe!
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Das Gute im Leben
Fanfiction"Mit 18 geht das Leben doch erst richtig los." Für die meisten Menschen der Welt? Vermutlich. Doch nicht für Ramiro. Mit 18 Jahren wollte er zur Polizei, das war sein Kindheitstraum. Doch bei einer ärztlichen Untersuchung im Krankenhaus stellt man f...