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  Lyra Centaury

Ich gehe auf meinen zwei Beinen. Die reichen bis zum Boden. Zum Glück. Was täte man nur ohne Beine? „Miu, miu!", rufe ich rein aus Jux. Blicke mit merkwürdigem Ausdruck treffen mich. Mit verengten Augen zucke ich mit den Schultern. Wir setzen den Weg fort. Keiner sagt mir wohin es geht. Ich frage: „Den Grasweg? Mit Gras?" und die Antworten die ich bekomme sind nur: „Komm mit", oder „Ja. Der Grasweg.". Manchmal antworten sie mir auch gar nicht und würdigen mich nicht einmal eines Blickes. Und wo geht es jetzt hin??? Mir bleibt nichts anderes übrig, ich folge ihnen einfach. An vielen Bäumen vorbei und vielen vielen Grashalmen und sogar an einigen Blättern. Eine Fliege schwirrt um mich herum, doch das finde ich nicht außerordentlich witzig. Einmal fliegt sie mir auch in mein Gesicht. Direkt dagegen. Da musste ich dann weinen. Ich weine oft. Und das hat nichts mit Fliegen zu tun. Aber es fehlt einfach jemand der neben mir geht. Jemand mit dem Namen Llucah. Er ist tot. Dafür musste Colody sterben. Ich weiß genau, dass ihn nichts in der Welt wieder holen wird, geschweige denn, kann. Wenn ich abends im Schlafsack liege und versuche zu schlafen, drängt sich immer ein und das selbe Bild auf. Und dann weine ich halt ganz leise auch wenn ich glaube, dass nicht nur ich es höre. Um mich zu beruhigen murmele ich immer wieder: „Nein, nein, nein!" und für einige Zeit scheint es zu helfen. Jedoch nicht für ewig. Aber was kann denn helfen? Blumen? Oder Haare flechten?
Wir haben gerade ein Lager aufgebaut und ich setze mich hin und mache mein Zopf auf. Es hängen abermals Strähnen raus und das sieht doch nicht schön aus. Als ich meine Haare fertig geflochten habe, mache ich den Zopf nochmal auf und beginne von vorn. Linnet und „Muskel" verstecken unsere Rucksäcke, füllen das Wasser auf, flicken Wunden von uns und ich sitze mittendrin und flechte meine Haare.
Die anderen beiden sitzen sich in der Dunkelheit gegenüber und schmieden leise Pläne, die die zukünftige Zeit betreffen.
„Wo denkst du, liegt Distrikt 12? Ich weiß nicht wo lang", sagte Linnet, doch ich sehe nicht hin. Mit dem Rücken an einen Baum gelehnt und meine Arme um meine Beine geschlungen, streiche ich die Haarspitzen glatt, die aus dem Zopf hängen. Wenn ich nur wüsste was der Sinn des Lebens ist. Wenn ich doch nur wüsste, wofür es sich jetzt noch zu leben lohnt. Wenn ich es wüsste, wüsste ich auch warum ich noch weiter kämpfe und mir diesen unsäglichen Schmerz antue. Ich erinnere mich an den Moment als ich an dem Rand der Felsen stand und die Gesänge der Wellen meinen Kopf und meinen Körper erfüllten. Es war nicht das selbe Gefühl, welches ich jetzt verspüre.
Ich will nicht weiter nachdenken! Versteht das denn keiner?
Wie alles auf dieser Welt, bin ich schwach. Nichts ist von Dauer. Das einzige was jemals erhalten bleibt, ist die Veränderung. Ich bin schwach, doch ich bin stark genug um mutig zu sein. Nicht die Stärke machte mich schwach, sondern die Schwäche machte mich stark. So stark, den Gedanken des Todes nicht als Absonderung, sondern als Teil des Lebens zu behandeln. Was viele als Gegenteil sehen - „es entscheidet sich um Leben und Tod", „Leben ist weiß, Tod ist schwarz" - ist für mich etwas, das verknüpft ist und von Grund auf zusammen gehört.
Ich bin so stark geworden, nicht den Tod als letzten Ausweg zu wählen, das macht nur einer, der Angst hat. Doch ich begegne dem Tod mit Liebe - der Gegensatz zur Angst, wo jeder auch der Meinung wäre, das Gegenteil zu Liebe wäre Hass. Ich heiße den Tod mit Freude willkommen und nicht mit Furcht.
Ich will wissen, wer ich bin. Wer bin ich? Wer bin ich so zu denken?
Das einzige was ich brauche ist eine Antwort. Wer kann sie mir geben? Wer sagt es mir? Mit der Hand ertaste ich das Medaillon an meiner Brust.
Nachdem ich es über meinen Kopf streife, öffne ich es.
Vergesse niemals wer du bist.
Doch ich vergesse mich. Ich dachte ich vergaß mich bereits, an dem Zeitpunkt, als ich in mein „Distrikt" in dieser Arena kam. Als ich auf dem Baum saß und in Erwägung zog, den Tribut zu töten.
Ich dachte, da hätte ich mich vergessen. Doch ich glaube das Problem ist nicht, dass ich mich bereits vergessen habe, sondern dass ich mich nicht mehr erinnern kann.
Ich erinnere mich nicht. Wo komme ich her? Was ist passiert? Warum bin ich hier? Wie ist mein Name? Wie ist mein NAME?
„WIE IST MEIN NAME?"
Ich finde mich wutentbrannt vor meinen Verbündeten stehend wieder. Das Medaillon liegt trostlos am Boden. Blicke, der Erschrockenheit, Verwunderung, Sorge.
„ ... Was ...?", Linnet zieht ihre Augenbrauen zusammen, „Muskel" blickt bloß mit ihrem ewig gelangweilten Gesichtsausdruck zu mir hoch.
„Ich wollte doch nur wissen, wie mein Name ist! Ich wollte nur wissen, wer ich bin! Ist das zu viel verlangt!?", meine Stimme erhebt sich zu einem schrillen Krächzen. „Lyra, du heißt Lyra!?",stammelt Linnet.
„Lyra, Lyra! Das ist bloß ein Name! Nichts weiter! Keine Bedeutung!"
Als mir keiner etwas entgegnet, mache ich kehrt und setze mich zurück an den Baum, lege den Kopf auf meine angezogenen Knie und schluchze, bis keine Träne mehr übrig ist. Fürs erste.

Die Tribute von Panem - Das erste JubeljubiläumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt