Wenn du dann am Boden bist

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Wenn man einmal einen schlimmen Kater, also einen richtig schlimmen Kater hatte, hat man das Gefühl, sterben zu wollen. Und es zu müssen. Aus Reue. Weil sich alles dreht. Oder wenn man sich unabsichtlich irgendwo richtig übel schneidet. Oder sich verbrennt. Oder verbrüht.

So oder so ähnlich hätte es sich für Jenny anfühlen können.

Leider fühlte es sich noch viel schlimmer an, und jeder bisher dagewesene Schmerz war zweifellos der größte Kinderkram, den sie je erlebt hatte. Das hier, das war die Art Schmerz, die sich einfach mit keinem einzigen Adjektiv beschreiben lassen konnte. Und wirklich denken konnte sie gerade nicht, denn ihr gesamter Körper fühlte sich zeitgleich taub und vollkommen fühlend an. Sie konnte nicht einmal schreien, weil es so wehtat. Und bewegen konnte sie sich auch nicht wirklich im Moment. 

"Sie wacht auf, Felix."

Wie in Watte gepackt konnte die junge Frau eine tiefe, scheinbar erleichterte Stimme wahrnehmen, denn sehen konnte sie zum aktuellen Zeitpunkt nicht, allerhöchstens ziemlich unscharf, als würde man beinahe die Augen schließen. Ein innerer Fluchtreflex wollte sie dazu animieren, möglichst schnell versuchen, sich aus der unangenehmen Starre heraus zu erheben, aber dann musste sie frustriert und mit steigender Panik feststellen, dass sie ja nur eine sehr eingeschränkte Bewegungsmöglichkeit hatte, und ihre Arme schienen an irgendetwas festgebunden zu sein, außerdem ergriff eine übelkeitserregende Welle ihren Körper, und unruhig atmend ließ sie sich schlaff wieder auf die Oberfläche fallen. "Du solltest dich lieber nicht bewegen.", sprach eindringlich, aber mit sanfter Tonlage die andere Stimme, denn sie hatte einen etwas abgeänderten Klang. 

"Jakob. JAKOB. Bring ihr etwas zu Trinken.", ermahnte die sanfte Stimme nun etwas forscher, und beinahe zeitgleich merkte die kleine Frau deutlich, wie ein noch nie dagewesener Durst ihr gesamtes Denken auf unheimliche Art und Weise einnahm, und ihr Hals schmerzte höllisch, das bemerkte sie nun auch. Allerdings sowohl ihre Kehle als auch außerhalb, und ein widerlicher Schauer überkam ihre Wirbelsäule. Wimmernd und beinahe lautlos gab sie flehende Laute von sich, wollte immer wieder den Arm heben, nach dem Ursprung der sanften Stimme greifen, sich irgendwo festklammern, irgendwas, doch immer wieder wurde ihr Versuch unterbunden, bis sie die zwei Stimmen knurren hörte, und dann vermutlich ein Streitgespräch.

Keinen Augenblick später wurde ihr Hinterkopf von einer großen, kühlen Hand vorsichtig angehoben, und der Rand des Glases drückte sich leicht gegen ihre Mundöffnung. "Du musst viel trinken." Die tiefe Stimme wieder, sie klang besorgt. Sie wollte nicken, fand es dann jedoch wichtiger, ihren Durst zu stillen, und nach den ersten Schlücken der metallisch schmeckenden Flüssigkeit, die sie irgendwie an Kirschen erinnerte und an eine weiter Sache, die ihr nicht einfallen konnte oder wollte, hatte sie das Gefühl, alles auf einmal zu spüren und zu riechen, aber ihre Augen wollten nach wie vor nicht ihren Dienst erledigen. 

"Felix, hol ihr noch mehr. Sie wird noch mehr brauchen.", sagte die brummende, basslastige Stimme, und Schritte entfernten sich von ihr, doch ein ihr unbekannter Drang und ein seltsames Rauschgefühl ließen beinahe von alleine ihren Kopf noch ein Stück nach vorne heben, und ein dezenter Duft von Männerparfum wies ihr den Weg, ehe ihre von der Flüssigkeit benetzten Lippen auf Haut trafen. Das leicht überraschte Aufkeuchen, sei es nun von positiver oder negativer Stimmung, war das Nächste, was sie noch mitbekam, als sie, ohne es kontrollieren zu können, ihren Mund öffnete, ein kurzes Ziehen im Zahnfleisch spürte und im nächsten Moment in den weichen Hals biss. Erleichtert gab sie ein dumpfes Stöhnen von sich. Es fühlte sich so ungewohnt wohltuend an, und der Geschmack machte sie direkt abhängig, bis ihr Gegenüber es irgendwie schaffte, sich mühevoll zu lösen, oder aber sie wurde zurückgezerrt.

"Jakob, verdammt. Du musst aufpassen! Sie kann noch Spuren der Droge in deine Blutbahn eingeflößt haben. Kannst du beim nächsten Mal bitte nicht derart unvorsichtig vorgehen?"

Dennoch ereilte der jungen Frau keine Zurechtweisung oder dergleichen. Einige weitere Male wurde das Glas nachgefüllt, und schließlich schien man ihren Mund mit einem Tuch abzuwischen, doch trotz des langsam einsetzenden Sättigungsgefühls und der folgenden Müdigkeit hatte sie noch immer dumpfe Schmerzen, die garantiert phasenweise wiederkehren würden, auch wenn sie wirklich dankbar war, nun etwas besser sehen zu können.

Sie erschrak, als sie auf dem unbequem wirkenden Boden neben sich einen großgewachsenen Mann mit langen, offenen Haaren halb schlafend sah, und laut der frischen Bisswunde an seinem Hals musste er folglich derjenige sein, den sie gebissen hatte und sich makaberer weise an ihm 'bedient' hatte. Er schien wieder ein wenig die großen, dunklen Augen  zu öffnen, und als er ihren erschrockenen Blick bemerkte, lächelte er leicht, ehe er eine wegwerfende Handbewegung ausführte, auch wenn diese sehr lasch ausfiel. 

Warum lächelte er sie denn so an? Sie hatte ihn doch gebissen...

"Ich kann es dir nicht verdenken. Wir sind quitt, okay?", sagte er mit vor Müdigkeit belegter Stimme und winkte ihr schwach zu, ehe er ohne Vorwarnung leise vor sich hin giggelte.           "Leg dich schlafen....ich bin auch jetzt ganz müde...", nuschelte er noch leise, als er im nächsten Moment wegnickte. Und auch wenn sie sich am Liebsten entschuldigen wollte und im selben Gedanken nach Hause, wenn sie denn wusste, wie sie dorthin kommen sollte, spürte sie in den nächsten Minuten eine solch schwere Müdigkeit, dass ihr Kopf wie leergefegt wurde.


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