Die Kaninchen

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|Nach einer leider wahren Geschichte|


"Du darfst nicht vergessen, die Kaninchen zu füttern."
Als ob sie das vergessen würde! Sie ist schließlich schon acht!

Mühsam schleppt Hanne den schweren Weidenkorb vor sich her, die Zunge konzentriert zwischen die Zähne geschoben, der bis oben hin mit frisch gerupftem Gras gefüllt ist.
Die Kaninchen werden sich freuen. Sie lieben das fette Gras des Frühlings, auch wenn man aufpassen muss, dass sie nicht zu viel Klee fressen, weil sie sonst Koliken bekommen und sterben.
Einmal hat Hanne diesen Fehler gemacht und der Vater hat deswegen furchtbar mit ihr geschimpft. Genauso, wie er mit ihr geschimpft hat, weil sie sich ständig mit den Tieren anfreundet und dann rumheult, wenn sie geschlachtet werden.
Aber dieses Mal wird sie alles richtig machen. Er wird stolz auf seine kleine Hanne sein, da ist sie sich ganz sicher.

Der Wind treibt die Wolken wie Wattebäuschchen vor sich her. Es ist ein schöner Tag- wenn nur dieses Summen nicht wäre!
Hanne entdeckt ein paar Löwenzahnpflanzen am Wiesenrand.
Den mag Hopsi, ihr Lieblingskaninchen, besonders gerne.
Hopsi ist fast ganz schwarz. Er hat nur eine weiße Hinterpfote und einen kleinen weißen Wirbel auf der Stirn. Und er ist viel klüger, als all die anderen Kaninchen. Hanne hat es sogar geschafft, ihm kleine Kunststücke beizubringen. Vielleicht kann sie einmal eine kleine Aufführung für ihre Eltern und Greta machen. Vielleicht wird der Vater dann Hopsi verschonen, wenn...

"Hanne! Was machst du denn hier draußen?", reißt Martha, ihre Nachbarin, sie aus ihren kindlichsorglosen Gedanken.
Hanne schaut auf und winkt Martha fröhlich.
"Guten Morgen! Ich muss die Kaninchen füttern.", ruft sie der Nachbarin zu.
"Ach, Gott, Kind! Du kannst doch nicht draußen rumlaufen! Wo sind deine Eltern? Greta?"
"Die mussten weg. Ich bin ganz allein für den Hof verantwortlich.", entgegnet Hanne stolz.
Martha lehnt sich aus dem Fenster und sucht den Himmel mit ihren Augen ab. Dann taucht sie durch die Fensteröffnung nach innen und ist verschwunden.

Wenig später kommt die Nachbarin auf Hanne zugelaufen. Sie rennt, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her, ihr Blick wandert immer wieder zum Himmel.
Sie packt Hanne grob am Arm, wodurch ihr der Weidenkorb aus den Händen rutscht. Er kullert über den Boden und verteilt das ganze Gras darauf.
"Du kannst nicht hier draußen rumlaufen.", wiederholt Martha panisch, "Hörst du das nicht? Das ist der Fliegeralarm!"

Martha hat Hanne am Arm gepackt und zerrt sie hinter sich her.
"Ich muss die Kaninchen füttern!", protestiert das Mädchen, aber das scheint die Nachbarin nicht zu hören. Erst als sie drinnen sind, lockert sie ihren Griff.
"Du kannst bei uns wohnen. Bis...Bis das wieder vorbei ist."
Über Hannes Wangen kullern mittlerweile dicke Tränen. Sie wollte doch, dass der Vater stolz auf sie ist! Dass er den Hof in bester Ordnung vorfindet, wenn er zurück kommt. Jetzt ist alles verdorben!
Martha geht vor dem Mädchen in die Hocke und wischt ihr die Tränen von den Wangen.
"Schau mal, hier kannst du ein eigenes Zimmer haben.", tröstet sie das schluchzende Mädchen, "Du darfst dir aussuchen, ob du das von Hans oder Peter haben willst."
Hanne nickt langsam. Zuhause muss sie sich ein Zimmer mit Greta teilen. Und jetzt soll sie ein eigenes Zimmer bekommen! Eins für sich ganz allein!

Wie zischende Vögel schwirren die Flieger über sie hinweg. Manchmal donnert es in der Ferne. Manchmal flackern grelle Blitze.
Martha und Herbert erhalten Nachricht von der Front. Peter wird nie wieder in sein Zimmer ziehen.
Das Summen der Sirene begleitet sie tage- und nächtelang hindurch. Und dann verstummt sie plötzlich.

Hanne kehrt gleich am Morgen zum Hof zurück. Der Weidenkorb liegt noch an der Stelle, an der sie ihn verloren hat. Das Gras ist mittlerweile ganz dörr und vergilbt.
Schnell rupft das Mädchen neues Gras, bis der Korb wieder voll und schwer ist.
Hopsi und die anderen sind bestimmt hungrig. Mit eiligen Schritten, die Knie immer wieder am Korb anschlagend, läuft sie zu den Ställen. Als erstes bekommt Hopsi sein Futter.
Sie öffnet mit flinken Fingern das Türchen, doch er kommt ihr nicht entgegen gehoppelt.

Er liegt in seinem Stroh, ein Fellhaufen mit toten Augen, die ihr vorwurfsvoll entgegen starren.
Vergiss nicht, die Kaninchen zu füttern, scheinen sie zu sagen.

My Mind - you talk too muchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt