Autumn's Ballad

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Wenn die Welt im Herbst sich wiegt
Wenn Nebel über den Boden wallen
Wenn Blätter von den Bäumen fallen
Wenn das, was Grün war,
Sterbend am Boden liegt
Dann werdet ihr, ihr Liebenden, euch finden und auseinandergehn.

Sie liebte den Herbst.
Vielleicht lag es daran, dass er sie an die Vergänglichkeit erinnerte. Daran, dass jedes Ding, jedes Wesen, jede Schönheit, mit jeder Sekunde, die verstrich, ein bisschen starb. Dass jeder Moment verging, egal ob es ein guter oder ein schlechter gewesen war. Und damit kostbar und zugleich nichtig wurde.

Sie liebte es, den Wind in ihren Haaren zu spüren, konnte nicht genug vom Rascheln und Knistern des trockenen Laubs unter ihren Füßen und von den fliehenden Wolken über der Stadt bekommen.
Vielleicht, weil sie das Brennen auf ihren Wangen, wenn man ins Warme kam, brauchte, um sich selbst zu spüren, um sich lebendig zu fühlen. Vielleicht, weil der Wind allem Leben einhauchte, mit den Ästen musizierte, den Häusergassen die Töne einer Flöte entlockte und die bunten Blätter vor sich hertrieb wie einen Schwarm farbenfroher, gezackter Fische.

Sie liebte es, wenn die Sonne schien, ohne zu wärmen, wenn die Leute sich enger in ihre Jacken schmiegten, weil der Sturm an ihnen riss.
Vielleicht, weil diese Kälte dazu führte, dass man näher aneinander rückte, wenn man vor ihr ins Warme flüchtete.

Und sie liebte den Herbstregen und die klare Luft, die er zurückließ, vielleicht, weil sie sich dann selbst irgendwie reiner fühlte.

Wenn die Welt im Herbst sich wiegt
Wenn Nebel über den Boden wallen
Wenn Blätter von den Bäumen fallen
Wenn das, was Grün war,
Sterbend am Boden liegt
Dann werden wir, ach, Geliebter, uns finden.

Er hasste den Herbst.
Vielleicht lag es daran, dass er ihn ans Sterben, Verfallen, Dahinsiechen erinnerte. Daran, dass man alles, was man zu besitzen, zu haben, glaubte, von einer Sekunde auf die andere verlieren konnte.
Man verlor seine Jugend, seine Schönheit, seinen Reichtum, die kleine und die große Liebe. Und dann war man nichts mehr. Alles war umsonst, denn hielt man es irgendwann nach langer, harter Arbeit endlich in den Händen - dann begann es bereits zu zerrinnen, durch die Finger zu rieseln wie Sand.

Er hasste es, wenn der Wind an ihm zerrte, ihm die Frisur zersauste, für die er vorher beim Friseur ein kleines Vermögen gezahlt hatte. Er hasste es, wenn die nassen Laubklumpen an seinen Schuhen pappten und seine Schritte behäbig werden ließen. Und vor allem hasste er das Brennen auf seinen Wangen, denn es fühlte sich an, als würde ihm jemand glühende Nadeln in die Haut treiben.
Vielleicht, weil er damit einen unfreiwilligen Vorgeschmack auf das Alter bekam, zumindest auf das, was er damit assoziierte: Schmerz, Behäbigkeit, sinnlose Mühen.

Er hasste den kalten Herbstregen und die geschlossene, graue Wolkendecke, die keinen einzigen Sonnenstrahl durchließ und wenn doch, dann waren es kalte Strahlen und das alles schlug ihm furchtbar aufs Gemüt, machte ihn übellaunig und wehleidig. Die Kälte verursachte, dass seine Nase ständig tropfte und seine Hände waren so klamm und kalt, dass er sie nur in seinen Manteltaschen verwahren konnte, wo sie natürlich prompt anfingen zu schwitzen.
Wenn er dann vor diesem Mistwetter Schutz in einem Geschäft suchte, dann waren dutzende Menschen vor ihm auf diese Idee gekommen, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich dazwischen zu quetschen oder wieder hinaus in diese vermaledeite Kälte, in diese Nässe, in den Schmutz der Straßen, zu flüchten.

Wenn die Welt im Herbst sich wiegt
Wenn Nebel über den Boden wallen
Wenn Blätter von den Bäumen fallen
Wenn das, was Grün war,
Sterbend am Boden liegt
Dann werden wir, ach, Geliebte, auseinandergehn.

Mit langen Schritten eilte er durch den Park, denn obwohl die Sonne ab und an durch die tiefgrauen Wolkentürme lugte, platschten große, schwere Regentropfen auf den Weg vor ihm, was ihn dazu veranlasste, den Kopf einzuziehen und noch schneller zu gehen. Die eine Hand hatte er tief in seiner Manteltasche vergraben und mit der anderen umklammerte er seine Aktentasche, die er an seinen Körper presste. Sein Blick war stur auf den Boden gerichtet und er konnte nur daran denken, wie dringend er nach Hause wollte nach diesem furchtbaren Tag.

Plötzlich rieselte eine Ladung feuchtes Laub auf ihn nieder und er riss empört den Kopf hoch, um dem Übeltäter ein paar zornerfüllte Worte entgegenzuschleudern.
Doch diese Worte blieben ihm im Hals stecken, als er in dieses lachende Gesicht sah.
Erstaunt riss er die Augen auf.

Er hatte ein Kind erwartet, jedoch stand eine Frau vor ihm, die ihm keck entgegen blickte. Sie war in den Herbst gekleidet, war ein Farbtupfer im Grau dieses Tages. Ihr Mantel war von einem tiefen Weinrot, ihre Beine steckten in moosgrünen Gummistiefeln, der gleiche Farbton, den auch ihre Mütze aufwies, unter der dunkelbraune Locken hervorquollen.
In ihren Fingern hielt sie einen üppigen Laubball, aus dem sich einzelne Blätter lösten und wie um sich selbst rotierende Propeller der Erde entgegen flatterten.
"Was-", begann er unflätig.

Ohne eine Vorwarnung riss sie die Arme in die Höhe, warf das Laub in die Luft und ließ es auf sie beide herabregnen. Dabei lachte sie vergnügt, stellte sich auf die Fußspitzen und drehte ausgelassen eine Pirouette, tanzte und wirbelte mit den Blättern um die Wette.

Fassungslos starrte er erst die Blätter, die auf ihm landeten und in seiner Kleidung hängen blieben, dann sie an.

Sie blieb direkt vor ihm stehen und legte den Kopf leicht schief, in ihren Augen blitzte der Schalk, sein vedutzter Gesichtsausdruck schien sie unglaublich zu amüsieren.
Sie streckte eine Hand nach ihm aus, er zuckte zurück, wollte dieser kleinen Hand ausweichen, doch sie hatte ihr Ziel bereits gefunden und pflückte ein kleines, rotgelbes Buchenblatt aus seinem Haar.
Mit einem breiten Lächeln, so strahlend wie die Sonne, überreichte sie es ihm und hüpfte dann einfach davon.

Er sah noch, wie sie jauchzend mit vollem Anlauf in eine Pfütze sprang, sodass das Schlammwasser braune Tupfen auf ihrem Mantel hinterließ.
Dann war sie verschwunden.

Sein Blick fiel zurück auf das Buchenblatt in seinen Händen, die es nachdenklich drehten.
Verwundert stellte er fest, dass seine schlechte Laune verflogen war, dass seine Hände nicht mehr kalt waren, aber am meisten schockierte ihn, dass er plötzlich lächelte.

Wenn die Welt im Herbst sich wiegt
Wenn Nebel über den Boden wallen
Wenn Blätter von den Bäumen fallen
Wenn das, was Grün war,
Sterbend am Boden liegt
Dann werden wir, wir Liebenden, uns finden.

Er liebte den Herbst, weil sie ihn so sehr liebte. 
Weil sie sich damals, an genau solch einem Tag wie heute, das erste Mal getroffen hatten.

Als er den gemächlich ansteigenden Weg hinaufschlenderte, sich dabei leicht auf den Stock stützte, den er eigentlich gar nicht wirklich brauchte, streichelte der Wind ihm sanft durchs graue Haar, ließ Blätter um ihn herumflattern wie kleine gelbrote Schmetterlinge.
Regen und Sonne wechselten sich heute ab, aber das störte ihn nicht. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, wie immer, wenn es Herbst wurde. 

Er blieb vor dem kleinen Hügel stehen, auf dem eine junge Buche stand. Sie war in den Herbst gekleidet. Ein paar wenige Blätter trugen noch eine tiefgrüne Farbe, aber die meisten waren von einem dunklen Weinrot. Wie sie damals.

Er legte die Blumen auf ihr Grab und las wie so oft die Zeilen, die in den weißen Marmor gemeißelt waren:

Wenn die Welt im Herbst sich wiegt
Wenn Nebel über den Boden wallen
Wenn Blätter von den Bäumen fallen
Wenn das, was Grün war,
Sterbend am Boden liegt
Dann werdet ihr, ihr Liebenden, euch finden und auseinandergehn.

My Mind - you talk too muchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt