Der Mann ohne Alter

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Es gab einmal einen Mann, der hatte kein Alter.
Dieser Mann hatte weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft. Keine Erinnerung und keine Pläne, Wünsche und Träume. Vergangenes vergaß er im nächsten Augenblick und über das, was kommen würde, dachte er nie nach.

Wie das sein kann?
Nun, in erster Linie ist dies darauf zurückzuführen, dass er nicht geboren worden war. Er war eines Tages einfach da, vielleicht war er schon immer dagewesen und womöglich ist er noch da und wird immer da sein. Da er nicht geboren wurde, wuchs, schrumpfte und alterte er auch nicht, jedenfalls nicht so, wie wir das kennen.

Er war eine Tabula rasa, eine Projektionsfläche, auf die die Menschen die Geborenwerden, Wachsen, Altern und Sterben kannten, projizieren konnten, was auch immer sie sehen wollten oder aufgrund ihres begrenzten Vorstellungsvermögens, nur sehen konnten.

Wenn er im Park einen Spaziergänger fragte, warum der Himmel blau und nicht rosa sei, wenn er jauchzend einem Ball hinterherlief oder sich mit einer Arschbombe, die meterhohe Fontänen in die Luft jagte, in den See stürzte, dann sahen die Leute ein Kind, einen kleinen, lachenden Jungen.
Aber sie sahen noch viel mehr.
Sie sprachen dann mit langsamer, hoher Stimme mit ihm, da sie seinen Verstand noch nicht für ausgereift hielten. Sie gingen davon aus, er sei naiv, leichtgläubig und unschuldig, behandelten ihn vorsichtiger, fürsorglicher.

Wenn er dagegen im Hörsaal mit den Professoren über das Metaphysische stritt, wenn er sich mit Frauen oder Männern durch die Laken wälzte, bis alle verschwitzt und außer Atem waren, wenn er in der Bank nach einem Kredit fragte oder ein Auto kaufte, ja, dann sahen die Leute einen 20-, 30- oder sogar 40-Jährigen.
Plötzlich waren sie nicht mehr so vorsichtig, nicht mehr fürsorglich. Dafür trauten sie ihm einen gewissen Intellekt zu, auch wenn sie manchmal darin noch jugendlichen Leichtsinn und Idealismus vermuteten. Sie erwarteten von ihm Vernunft und Verantwortungsbewusstsein und waren enttäuscht, wenn er dies dann nicht zeigte.

Wenn er auf der Parkbank saß und die Tauben fütterte, wenn er die Dinge genau abwägte, bevor er sie tat, wenn er Ratschläge gab, wenn er bedächtig sprach und ging und sich an den kleinen Wundern der Natur erfreute, dann sahen die Menschen einen alten Mann, auf und in dem das Leben Spuren hinterlassen hatte.
Sie schätzten seine Weisheit, seine Erfahrenheit, dass er die Folgen des Leichtsinns kannte.

Und so kam es, dass jeder, der diesem Mann begegnete, einen anderen sah. Es konnte sein, dass, wenn mehrere Menschen auf einmal seinen Weg kreuzten, der erste meinte, er habe ein Kind gesehen, der zweite dachte, er habe sich mit einem Mann mittleren Alters über das Wetter unterhalten und der dritte behauptete, er habe mit einem alten Herren gezankt.
Es gab sogar einige, die waren felsenfest überzeugt davon, dass sie eine Frau getroffen hatten.

In Wirklichkeit war er das alles nicht und von allem etwas.
Oder umgekehrt?

Auf jeden Fall verschwand er eines Tages spurlos.
Er war einfach weg und keiner wusste, wo er hingegangen war.

Einer, dem besonders viel an diesem Mann lag, aus welchen Gründe auch immer das so gewesen sein mag, begab sich auf die Suche nach diesem Mann ohne Alter.
Lange, lange Zeit blieb seine Suche erfolglos, was zu erwarten war, denn er wusste ja nicht einmal, wie der Mann gerade aussah oder welche Eigenschaften er gerade hatte.
Irgendwann hörte er auf zu suchen, er setzte sich auf eine Parkbank und wartete. Jedem, der es hören wollte - oder auch nicht - erklärte er, er warte auf den Mann ohne Alter. Er wisse, dass er komme.

An einem schönen Sommertag, als er wieder auf dieser Parkbank saß und wartete, kam eine junge Frau auf ihn zu.
Sie war unscheinbar, durchschnittlich, hatte braune Augen und braunes Haar, an mehr kann er sich nicht mehr erinnern.
Wortlos drückte sie ihm ein Stück Papier in die Hand und verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war.

Mit klopfendem Herzen faltete er das Papier auseinander. Dort stand:

Lieber Suchender und Wartender

den Mann ohne Alter hat es in Wirklichkeit natürlich nie gegeben. Aber für dich schon, weil ich dir diese Geschichte erzählt habe. Durch meine Worte habe ich ihn in dir aufleben lassen.

Hast du nicht an einer Stelle kindlichen Übermut gefühlt? Bist dir an einer anderen der Verantwortung des Erwachsenseins bewusst geworden? Hast dich auch mal alt und reich an Erfahrungen gefühlt?

Vielleicht bist du ja selbst der Mann ohne Alter oder ich bin es oder du bist ihm mit jedem Menschen, den du je getroffen hast, begegnet.

Er las die Nachricht wieder und wieder.
Dann lächelte er, erhob sich und hörte auf, zu warten.

My Mind - you talk too muchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt