Seit ich denken konnte, knatschte die vorletzte Treppenstufe unseres Hauses, wenn man nach unten geht. Früher, als kleines Kind, fand ich das lustig. Wenn ich mit meinem Bruder damals verstecken gespielt habe, wusste ich dadurch immer, wo er sich versteckt hatte. Heute lässt mich das Geräusch jedes Mal zusammen zucken.
Es weckte jedes Mal die Erinnerung an die bedrohliche Stille und Leere, die seit einigen Jahren in unserem Haus herrschte. Mehr denn je, nun, da mein Bruder fort ist.
An diesem Morgen bin ich allein, Vater musste früh fort, irgendetwas bei den Candor klären. Vermutlich ging es um die Zeremonie der Bestimmung, die in zwei Wochen statt finden würde. Ich glaube keiner war so erleichtert wie ich darüber, endlich die Chance zu haben zu fliehen. Einfach fort zu gehen und ein neues Leben zu beginnen. Davon träumte ich schon mein ganzes Leben lang. Na ja, oder genauer gesagt, seit mein Leben hier angefangen hat mich zu ersticken. Ich schulterte meine Tasche und trat hinaus in einen neuen Tag. Die kühle, feuchte Luft unserer Stadt wehte mir um die Nase und ließ Strähnen aus meinem Dutt lose mein Gesicht herab fallen. Einige Schritte vor mir liefen andere Altruan Kinder. Wie ich, waren sie auf dem Weg zur Bushaltestelle, aber ich hatte keine Lust mit ihnen zu gehen. Ich wäre ja sowieso nicht erwünscht.
Ich hatte nirgendwo wirkliche Freunde. Wenn ich in der Schule die Flure entlang ging, wurden mir nur mitleidige oder herablassende Blicke zu geworfen oder es wird hinter vorgehaltener Hand getuschelt, als wäre ich taub oder einfach zu dumm, es mitzubekommen. Aber ich habe gelernt, es nicht zu nah an mich heran zu lassen. Als die Gerüchte zum ersten Mal aufkamen, ohne dass ich eine Ahnung hatte, was los war, hat es mich unglaublich hart getroffen als plötzlich niemand mehr etwas mit mir zu tun haben wollte. Auch die fiesen Sprüche haben weh getan. Mittlerweile wusste ich, dass ich solche Menschen in meinem Leben sowieso nicht hätte gebrauchen können.
Die kleinen Steine auf der Erde knirschten unter jedem meiner Schritte. Der Tag heute war ungemütlich, grau und kalt. Der Wind schlug erbarmungslos um sich und die dunklen Wolken kündigen Regen an. Ein perfekter Tag, um aus dem Fenster zu starren und ein wenig zu zeichnen. Eigentlich war es mir untersagt, Hobbys nachzugehen, es sei denn, sie dienten dem Wohl unserer Gemeinschaft. Aber mein eigener Vater, Anführer unserer Fraktion, hielt sich auch nicht an die Regeln, wieso sollte ich es dann tun? Das Zeichnen half mir, Träume, Wünsche und Gedanken besser auszudrücken. Nicht, dass ich meine Zeichnungen jemandem gezeigt hätte. Sie waren nur für mich, deshalb bedeuteten sie mir auch so viel. In gewisser Weise stellten sie mich selbst dar. Stift und Papier hatte ich immer dabei, ich bewahrte meine Zeichnungen in einem kleinen Notizbuch auf, das ich einst im Nachttisch meiner Mutter gefunden habe. Sozusagen war es das einzige, was mir von meiner Mutter geblieben war, vielleicht bedeuten die Zeichnungen mir deshalb so viel. Meine Mutter starb bei meiner Geburt, mit einer der Gründe, warum mein Vater mich so sehr hasste. Ich hatte nie das Glück, sie kennen zu lernen, aber mein Bruder erzählte mir oft von ihr. Jedes Mal, wenn er von ihr erzählte, breitete sich ein trauriges Lächeln auf seinem Gesicht aus und sein Blick wurde starr und glasig. Ich habe ihm das niemals gesagt, doch insgeheim war ich für nichts mehr dankbar, als dass er mich nicht für meine bloße Existenz hasste. Nein, er liebte mich, wie ein Bruder seine Schwester lieben sollte. Oder wie ein Vater seine Tochter eigentlich lieben sollte. Ich denke, mein Bruder, Tobias, hat sich mir und Mom gegenüber immer irgendwie verpflichtet gefühlt. Vielleicht hat er ihr insgeheim versprochen, sich um mich zu kümmern, da sie es nicht gekonnt hatte.
Aber er hatte sein Versprechen gebrochen.
"Elizabeth!" Eine vertraute Stimme riss mich aus meinen Gedanken. "Wieso gehst du denn allein?" Caleb Prior, ein hübscher Altruan Junge, aus einer angesehen Familie. Er und seine Eltern kamen oft zu uns zum essen. Eines solchen Abends hatte er in mein Zimmer gespäht, als ich mal wieder wegen des Besuchs nicht nach unten gehen durfte, und wir haben uns gut verstanden. Seitdem waren wir sowas wie Freunde. Ich bemühte mich um ein Lächeln: "Verzeih mir", sagte ich, "ich habe nicht an dich gedacht. Ich war mit den Gedanken heute Morgen woanders."
Perfekter Altruan Kaudawelsch.
Er lächelte. Ein etwas schiefes Lächeln, bei dem sich Grübchen auf seinen Wangen bildeten. "Macht doch nichts. Macht es dir etwas aus, wenn ich mich zu dir geselle?"
Ja.
"Nein, natürlich nicht."
Zusammen schlenderten wir die unebene Straße entlang. Nicht mehr lange und wir kämen am Fraktionslosen Viertel vorbei.
Viele ekelten sich vor den Fraktionslosen, aber ich nicht. Mir taten sie schon immer irgendwie leid. Die meisten haben sich ihr Schicksal nicht ausgesucht, sie wurden von unserer Gesellschaft hinein gezwungen - und damit kann ich mich gut identifizieren.
Der Rest des Weges verlief mehr oder weniger Schweigsam. Ab und an stellt Caleb mir eine belanglose Frage und ich antworte.
Auch im Bus verschwand die drückende, gezwungene Stille zwischen uns nicht.
Wir standen, wie es sich für Altruan gehört. Jemandem einen freien Platz weg zu nehmen wäre entgegen unserer Regeln. Trotzdem hätte ich mir einen Sitzplatz gewünscht, allein schon wegen den Fahrkünsten des Busfahrers gepaart mit den Schlaglöchern der zerschlissenen Straße. Vielleicht hätte ich mich sogar einfach hingesetzt, wäre der Bus leerer gewesen und wäre ich allein gewesen.
Der Bus kam ruckartig zum stehen und ich stieß gegen einen Candor Mann. Ich murmelte ein "Verzeihung", aber der Mann war schon auf dem Weg nach draußen, während er irgendetwas von wegen "Stiff" brabbelte. Die anderen Fraktionen beschimpften uns Altruan mit diesem Wort, weil wir so spießig und steif waren. Caleb stieg mir voran aus und ich folgte ihm. Beinahe stolperte ich über den Saum meines langen Rocks, als ich mich durch die Menschen quetschte, die es nicht einsahen, uns Platz zu machen.
Wir sind ja auch nur Stiffs.
Die Schule war in drei Gebäude eingeteilt. Eines war für die Schulanfänger, ein weiteres für die Mittelschüler und das letzte für uns Abschlussschüler. Caleb hielt zwei Ken Mädchen die schwere Eingangstür auf, bevor er eintrat. Beide kicherten amüsiert und man konnte förmlich sehen, wie Calebs Ohren glühend rot und heiß wurden. Schließlich traten wir ein und in der Eingangshalle unterhielten sich die Schüler hektisch. Morgen fand der Bestimmungstest statt, welcher uns Auskunft über unsere Eignung für die Fraktionen geben soll, und alle waren aufgeregt Ich hatte bisher noch kein bisschen darüber nachgedacht. Alles was ich wusste war, dass ich weg wolte, egal wohin. Auch wenn ich die Ken mit Gewissheit ausschließen konnte, bei all den Gerüchten, die sie über mich und meine Familie verbreiteten. Wegen den Ken, oder genauer gesagt wegen ihrer Anführerin Jeanine, wurde ich auf den Gängen komisch angesehen, denn sie war es, die in der Zeitung veröffentlicht hat, mein Vater würde mich misshandeln. Natürlich würde ich dies abstreiten, aber mich fragte niemand danach. Die Leute reimten sich ihre eigenen Geschichten zusammen ohne die wirklichen Hintergründe zu kennen. Jeanine hatte ebenfalls das Gerücht in die Welt gesetzt, meine Mutter wäre nicht tot, sondern nur vor meinem Vater geflohen, was diesmal sogar wirklich völliger Unsinn war.
Würde ich zu den Ken gehen, wäre das nur ein gefundenes Fressen für sie. Auch wenn ich den Gesichtsausdruck meines Vaters gern sehen würde, wenn mein Blut in die Schale voll Wasser tropft.
Caleb hüstelte und erhielt so meine Aufmerksamkeit. "Ich muss dann gehen, ich will nicht zu spät kommen. Vielleicht können wir ja später zusammen nach Hause gehen?" Er lächelte mal wieder so unschuldig. Um ihn nicht traurig zu machen, sagte ich: "Natürlich, gerne" und mit einem Lächeln ging er in Richtung seines Klassenzimmers.
Ich hingegen wartete noch eine Weile, auf den Ferox Zug.

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Insufficient (Die Bestimmung - Divergent / Peter FF)
FanfictionJeder kennt den Namen Tobias Eaton alias Four, der bei den Ferox Zuflucht vor seiner grausamen Vergangenheit gefunden hat. Doch keiner weiß, dass er mit seiner Vergangenheit auch seine kleine Schwester, Elizabeth, zurück gelassen hat, die nun kurz...