11. Kapitel

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Den Besuchstag zu nutzen, um länger zu schlafen, war eine gute Idee. Ich bin immer noch aufgewühlt von den gestrigen Ereignissen. Edward liegt im Krankenzimmer und Myra weicht ihm nicht von der Seite, demnach sind alle ein wenig runter gezogen und schockiert. Nicht nur ein wenig- sehr sogar. Irgendwann stehe ich auf, um mich anzuziehen und mal in der Grube gucken zu gehen.
Insgeheim hoffst du doch, dass jemand für dich da ist.
Nach 10 Minuten schlendere ich aus dem Schlafraum und bereits ein paar Schritte weiter drubeln sich Menschen verschiedenster Fraktionen. Ich entdecke Christina, die mit einer Frau und einem kleinen Mädchen mit schwarz- weißer Kleidung steht und lacht. Sie sieht zufrieden aus, deshalb lasse ich sie mit ihrer Familie allein und gehe weiter. Zwei Personen fallen mir ins Auge, die am Geländer der Schlucht stehen und gelangweilt in die Menge blicken. Für Molly und Drew ist also auch niemand gekommen.
Dafür aber für Peter, der seine beiden Freunde völlig außer Acht lässt. Er steht zwischen einem groß gewachsenem Mann und einer umso kleineren Frau, die stolz aussieht. Auch Peter sieht ganz anders aus als sonst, nicht so mies, sondern irgendwie... glücklich. Er hat eine Hand auf die Schulter der Frau gelegt, die wahrscheinlich seine Mutter ist und sie strahlt ihn an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass solche Menschen ein Monster wie Peter in die Welt gesetzt haben. Ob sie wissen, was ihr Sohn für Dinge tut?
Aber wahrscheinlich hat jeder seine Gründe, warum man so ist, wie man ist. Und ich glaube, niemand weiß, wer wir wirklich sind, manchmal nicht mal wir selbst.

"Hast du dich gefreut, dass deine Mum hier war?", frage ich Rebecca später. Sie lächelt. "Ja und wie, auch wenn es nur kurz war, ich dachte, sie würde es nicht schaffen." Der Besuchstag ist fast vorbei und die meisten sind schon wieder gegangen. Rebecca und ich sitzen zwischen ein paar Verbliebenen in der Cafeteria und essen Schokokuchen. "Hast du Al gesehen?", fragt sie, während sie ihr letztes Stück Kuchen verdrückt. Ich schüttle den Kopf und mir fällt erst jetzt auf, dass er auch heute morgen nicht im Schlafraum war.
"Liz?"
Ich drehe mich um. Mein Bruder steht vor mir.
"Hast du kurz Zeit?" Ich sehe zu Rebecca und sie nickt verständnisvoll. Also gehe ich Four hinterher in einen leeren Flur. Dann umarmt er mich plötzlich. "Du wirst dich daran gewöhnen", sagt er. Hat er den Verstand verloren? "Was?", frage ich, "wovon redest du?" Er sieht mich an. "Hast du gehofft, dass er kommen würde?" Ich verziehe nur den Mund und gucke weg. Wieso fühle ich mich grade wie ein kleines Kind? "Ich habe gehofft, dass irgendjemand kommt", gestehe ich leise. Auf wen ich dabei gehofft hatte, kann ich selber nicht sagen. Er grinst leicht. Auch wenn er lächelt, erreicht es nie seine Augen. "Na ja, ich bin da." Ich lächle darüber, dass ich wohl doch eine Familie habe.

Al hat sich während des Besuchstages umgebracht.
Keiner von uns war da, um mit ihm zu reden, ihm beizustehen oder ihn abzuhalten.
Zu viel.
Es ist alles zu viel.
Es ist doch keine zwei Tage her, als wir zusammen saßen. Er hat die erste Runde geschafft. Will hat gesagt, seine Mutter hat ihn heute gesucht. Was war nur los?
Und viel wichtiger; wieso hat keiner von uns etwas bemerkt?
Ich konnte nicht länger da bleiben. Stehen, wo er stand. Allein. Verlassen und verzweifelt.
Jetzt sitze ich unter dem Netz, dass uns an unserem ersten Tag hier abgefangen hat. Dieser Tag scheint plötzlich so unendlich weit weg.
"Alles okay?" Ich sehe dahin, woher die männliche Stimme gekommen ist. Nur das Mondlicht fällt durch das Loch in der Decke und im Schatten steht eine lange Gestalt. Mein Herz macht einen Satz, aber es ist nicht Al.
"Was willst du, Peter?"
Ohne Aufforderung setzt er sich neben mich auf den Boden. Ich seufze. "Ihr wart befreundet, nicht wahr?"
"Peter ich habe wirklich keine Lust-"
"Es tut mir leid."
Ich blinzle ein paar Mal. Was war das? "Für was denn?" Es sieht so aus, als würden ihm die Worte schwer fallen. "Ich war wohl nicht fair zu dir." Er seufzt und fährt sich durch die Haare. "Du bist keine Stiff." Ich sehe ihn mit offenem Mund an, als er lacht: "Okay, doch, ein bisschen. Aber du bist auch tapfer. Und du hattest Recht mit dem, was du gesagt hast, ich bin ein verdammter Feigling." Eine Pause, die sich anfühlt wie Stunden. Träume ich? Bin ich betrunken? "Woher der Sinneswandel?" Er zuckt mit den Schultern. "Ich kannte Al zwar, aber wir waren keine Freunde oder so. Ihr aber schon. Es...", er zögert und sieht fast gequält aus, "es ist scheiße, jemanden zu verlieren..."
Danach schweigt er und mir fallen zum ersten Mal die furchigen Narben an seinem Kinn und seiner Wange auf. Ich frage mich, welche Geschichte sich dahinter verbergen mag, aber welches Recht habe ich, das wissen zu wollen, wo ich doch meine eigene Geschichte geheim halte?
Mein Herz schlägt wie wild, als ich ihn spielerisch einen Stoß gebe. "Du bist kein Feigling." Er sieht auf. "Manche Menschen erleben eben andere Dinge als andere, manche Dinge verändern uns halt." Er schmunzelt, als er wieder zu Boden sieht. "Ich hätte nicht gedacht, dass ein Zwerg wie du sich traut, mich so anzufahren wie gestern." Es liegt kein Spott in seinen Worten, eher spielerische Belustigung. Lachend antworte ich: "Glaub mir, du bist lange nicht so furchteinflößend, wie du denkst."
"Und du bist viel mehr wert als du denkst." Solche Worte von Peter Hayes rühren mich. Würde ich nicht schon sitzen, müsste ich es jetzt tun, deine meine Knie werden weich wie Pudding. Ich widerstehe dem Drang, meine feuchten Hände an meiner Hose abzuwischen und beiße mir immer wieder auf die Unterlippe, während wir uns anstarren. Dann greift er nach meinem Gesicht und küsst mich. Ruhiger, als damals bein Spiel. Also küsse ich ihn zurück und mehr gibt es nicht zu tun.
Wir verbringen die Zeit so, bis die ersten Sonnenstrahlen bereits durch die Decke fallen. Und es fühlt sich richtig an.

Insufficient (Die Bestimmung - Divergent / Peter FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt