Kapitel 4

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Ich hörte ihn noch rufen, aber ich drehte mich nicht um.

In meinen Augen standen schon wieder Tränen, Tränen, die Gilbert auf keinen Fall sehen durfte.

Er meinte zwar, er wolle sich entschuldigen, aber wahrscheinlich war das nur ein weiterer seiner Streiche...

Am nächsten Morgen lag ein neuer Block in meinem Zimmer.

Erstaunt nahm ich ihn in Augenschein, aber es gab keine Nachricht oder ähnliches...

War er von Gilbert?

Oder hatte Mutter gesehen, was geschehen war und hatte mir deshalb einen neuen besorgt?

Gefühle stiegen in mir auf und überforderten mich schon wieder.

Da war eine Hoffnung, dass es von ihm war, weil er sich wirklich entschuldigen wollte, Trauer, weil ich wusste, dass er so etwas nie tun würde, weil ich es einfach nicht wert war, dass sich jemand Gedanken über meine Gefühle machte oder Rücksicht auf mich nahm und Verzweiflung darüber, dass ich daran nichts ändern konnte.

Ich ließ mich auf den Boden plumpsen und weinte.

*Zeitsprung: 4 Jahre später*

Ich weiß nicht, warum, aber Gilbert war viel netter geworden, seit ich ihn angeschrien habe.

Ich habe mir angehört, was er zu sagen hatte, wusste aber noch nicht so ganz, was ich davon zu halten hatte.

Die Seite von mir, die in ihn verliebt war, freute sich natürlich darüber und meinte, es sei schon einmal ein Anfang, jetzt würde alles besser werden.

Die Realistische Seite meinte, dass er das nur tat, weil er entweder dazu gezwungen worden war oder er mir Hoffnungen machen wollte, um sie dann wieder zu zerstören.

Denn auch, wenn er meinte, es täte ihm leid, gab es Momente, in denen er mich tief verletzte.

Meine realistische Seite behielt immer die Oberhand.

Eine weitere Tatsache, die mich zutiefst belastete und emotional aufwühlte, war die Trennung meiner Eltern.

Meine Mutter wohnte nun im Palais unter den Linden in Berlin, während ich bei meinem Vater wohnen musste, diesem kalten, emotionslosen Mann, der oft im Krieg war, der sich nie die Mühe machte, mich zu verstehen, weil ich sowieso nie gewollt war.

Das letzte Geschenk meiner Mutter an mich war ein kleines, kunstvoll verziertes Messer, welches sie mir mit den Worten gab, dass sie hoffte, dass ich es nie brauchen würde.

Auch wenn ich verstand, was sie gemeint hatte und ich es in dieser Hinsicht noch nie gebraucht hatte, musste ich sie hinsichtlich eines anderen Gebrauches des Messers jedoch enttäuschen.

Irgendwann, als mir meine Gefühle über den Kopf wuchsen, mein Selbsthass, meine Selbstverachtung, das Gefühl, nichts zu können und nichts wert zu sein, gebrauchte ich es das erste Mal.

Wenn meine Mutter wüsste, dass ich ihr Messer benutzen würde, um mich selbst zu verletzen, würde sie bereuen, es mir geschenkt zu haben, aber sie wusste es nicht. Woher denn auch, schließlich war sie nicht da, wie konnte sie auch, wenn Vater sie von sich gestoßen hat wie ein altes Arbeitstier, das nun nicht mehr gebraucht wurde, ebenso, wie er mich von sich stieß, wie ein Künstler, der aus Versehen etwas geschaffen hatte, was er nie schaffen wollte und das ihm nicht gefiel, weil es hässlich und unbrauchbar ist, denn nichts Anderes war ich: hässlich, unbrauchbar und misslungen.

Das einzige, was mir geblieben war, nun, da ich nur noch selten im Sommer bei Onkel Friedrich war und Vater kein Klavier hatte, waren meine Bilder, für die ich vom Hofstaat oft gescholten wurden, weil sie so pessimistisch und traurig waren.

Sie verlangten Fröhlichkeit von einer Dame, aber das war ich nicht im Stande zu vermitteln.

Und egal, was ich tat, wie sehr ich auch malte, versuchte, mit meinen Gefühlen umzugehen, das gute am Leben, besonders an meinem eigenen Leben zu sehen, wurde es nicht besser. Mit jedem Tag, der verging, schien die Welt trauriger, einsamer, kälter und die Vorstellung eines schönen, glücklichen Lebens, das einen Sinn hatte und geschätzt wurde, immer mehr eine Lüge zu sein.

Der einzige nicht ganz so schattige Moment waren die wenigen Wochen bei Onkel Friedrich, der wenigstens meine Musik schätzte, auch wenn er sie weder hinterfragte, noch verstand.

Es blieb mir für diesen Sommer noch eine Woche Urlaub in Sans Soucis, als mich selbst in diesem Schloss die Sorgen einholten, da mich ein Brief meines Vaters erreichte, in dem stand, dass er mich vermählen wollte und auch schon jemanden gefunden hatte, der mein Ehemann sein sollte.

Weinend brach ich in meinem Zimmer zusammen.

Ich wollte nicht heiraten, vor allem keinen 40 Jahre älteren, emotionslosen, verrohten Offizier.

Ich wollte einfach nicht!

Zwischen zwei Schluchzern tastete ich unter meinem Unterrock nach meinem Messer.

Blut Rot [Gilbert BeilschmidtxOC]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt