Als wir in meinem neuen Zuhause, der 13 Martin Luther King Road, ankommen, gehe ich sofort in mein Zimmer und werfe mich aufs Bett.
Noch vor zwei Monaten wäre dies keine Selbstverständlichkeit gewesen;
Mia und ich schliefen zusammen auf einer dünnen Matratze auf dem Boden.
Auch diese Rückzugsmöglichkeit hätte ich in Kijiji nuru sicherlich nicht gehabt.
Ich mochte alle Dorfbewohner sehr,
und doch war es Mia, die sich unter den vielen Menschen am wohlsten fühlte.
Ich hätte auch gerne mal ein bisschen Zeit gehabt, in der niemanden um mich herumwuselte oder im Haus ein- und ausging.Jetzt liege ich auf meinem weichen großen Bett und starre an die Decke.
Obwohl ich nun doch schon eine Weile hier wohne, riecht alles immer noch neu und fremd.
Das Bett mit der himmelblauen Bettwäsche in meiner Lieblingsfarbe,
der helle Holzschrank, in dem die wenigen Dinge verstaut sind, die ich besitze,
die blauen Vorhänge und der flauschige Teppich auf dem Boden.
Das alles haben die Carters neu hergerichtet, und mein Zimmer und das ganze Haus sind selbst in Unordnung sauberer und ordentlicher, als unsere Hütte es jemals war.Und doch vermisse ich Kenia.
Die Tierlaute in der Nacht,
dieser spezielle Geruch nach "Zuhause", ja sogar Mias Schnarchen an meinem Ohr fehlt mir so sehr.
Doch ich habe aufgehört zu weinen. Zwar werde ich meine Heimat nie vergessen, doch dies hier ist ein neues Leben.
Mein neues Leben.
"Und daraus wird was gemacht, September Makoye!", befehle ich mir selbst, und ich kann mir gut vorstellen, dass Dad so etwas Ähnliches gesagt hätte.
"Genug geweint. Jetzt wird gelebt!"Auch wenn unsere Adoptiveltern eigentlich gerne hätten, dass Mia und ich ihren Nachnamen, Carter, annehmen,
heißen meine Schwester und ich immer noch Makoye, der Nachname, mit dem wir aufgewachsen sind.
Und ich weigere mich auch, ihn abzulegen.
Irgendetwas aus Kenia will ich mir wenigstens bewahren.
Außerdem finde ich, dass sich
"September Makoye" um Welten besser anhört als
"September Carter".Wenig später sitze ich mit Judith und Harry beim Abendessen.
Mia ist nicht da, sie schaut sich heute das Tennistraining beim Verein in der Nähe an.
Allerdings weiß ich nicht so recht, ob ich das gut finden soll oder nicht.
Immerhin kann sie mich so nicht wegen Leo nerven;
andererseits ist es meistens meine Schwester, die bei den gemeinsamen Mahlzeiten ein Gespräch mit unseren Adoptiveltern anfängt.
Und so herrscht nun eine unangenehme Stille.
Da räuspert sich Harry.
"September", fängt er an. "Wir wissen, dass du dich noch nicht ganz eingelebt hast und dass du vielleicht noch nicht gern unter Menschen gehen möchtest, aber wir haben uns gefragt, ob du auch Lust hast, ein Hobby zu betreiben.
Also einen Sport oder ein Instrument, oder so.
Damit du ein bisschen rauskommst und die Welt da draußen kennenlernen kannst."
Ich zögere.
"Nun ja", antworte ich langsam,
"in Kenia haben wir im Dorf oft getrom-melt. Das hat mir Spaß gemacht."
"Hmmm", meint Judith, "ich weiß nicht, ob die Musikschule Trommelunterricht anbietet. Aber ich werde nachfragen", verspricht sie.
"Und wie wär's mit einer Sportart?", fragt Harry. "Du könntest zum Beispiel Tennis spielen, wie deine Schwester."
Schnell schüttele ich den Kopf.
"Nein. Tennis finde ich langweilig."
"Oder schwimmen? Tanzen? Turnen?", schlägt Judith vor.
"Turnen lieber nicht", frotzelt Harry und grinst.
Wieder schüttele ich den Kopf.
"Nein. Kann ich bitte noch ein bisschen darüber nachdenken?"
"Na klar", sagt Judith. "Du sagt uns einfach Bescheid, okay?"
Ich nicke. "Darf ich aufstehen?", frage ich leise. Sie nicken beide und ich gehe in mein Zimmer.
Soll ich Fußball spielen?, grübele ich.
Die Jungs aus Kijiji nuru hätten mich bestimmt dazu ermutigt und hätten gesagt, ja, ich solle, auf jeden Fall.
Doch ich bin mir nicht sicher.
Wollte ich meinen Lebensabschnitt 'Kenia' nicht eigentlich hinter mir lassen?Eine andere Sache, die mich nicht mehr loslässt, ist die Szene heute morgen im Schulflur.
Die Tatsache, dass Leo einfach mit mir ein Gespräch begonnen hat, und dass ich ihm etwas Intimes verraten habe
- nämlich, in welchem Monat ich geboren bin, und sogar das mit meinen Eltern - , macht mich baff.
Warum habe ich mich ausgerechnet ihm anvertraut? Und das, obwohl ich gerade mal zwei Minuten mit ihm geredet hatte.
Sonst bin ich doch auch nicht so vertrauensvoll gegenüber Fremden.
Vor allem nicht bezüglich des Todes meiner Eltern. Auch, wenn das nicht so ganz stimmt.
Trotzdem, ich habe ihm eine Sache anvertraut, die ich seit Monaten zu verarbeiten versuche.
Und ihm gegenüber erwähne ich das gleich im ersten Gespräch?
Was ist bloß in mich gefahren?
Und warum ist er überhaupt auf mich zugekommen und hat mich angesprochen?
Er sagte, weil ich ihm aufgefallen bin...Gedankenverloren streiche ich über meinen Arm.
Als ich kleiner war, gab ich meiner Hautfarbe die Bezeichnung "milchschokoladen-braun", auch wenn ich nur sehr selten Milchschokolade zu Gesicht bekam.
Meine Haut ist nicht kaffeebraun wie die meiner Mutter, da mein Vater ein bisschen Helligkeit aus Nigeria, seinem Heimatland, mitbrachte.
Und doch sind viele Leute misstrauisch. Im Gegensatz zu Leo.
Er kommt einfach zu mir, lügt dafür sogar seine Freunde an, und nur um mit mir zu reden!?
Je länger ich darüber nachdenke, desto seltsamer und absurder wird das Ganze.
Energisch schüttele ich den Kopf, um die Gedanken an ihn loszuwerden.
Ich habe echt Besseres zu tun, als über einen Jungen, den ich kaum kenne, zu grübeln.
Zum Beispiel meine Mathe-Hausaufgaben. Stöhnend setze ich mich an den Schreibtisch und krame meine Mathesachen heraus.
Dieses Fach ist echt nicht mein Ding!Am nächsten Morgen husche ich kurz vor Unterrichtsbeginn auf meinen Platz in der letzten Reihe.
Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Moment kommst auch schon Mr Hamilton, unser Mathe- und auch Klassenlehrer, zur Tür herein.
Doch heute ist er nicht alleine.
Hinter ihm betritt ein fremdes Mädchen den Raum.
Sie hat wilde rote Haare, die sie mit den zwei Zöpfen kaum gebändigt bekommt,
und so viele Sommersprossen, dass man nur wenig ihrer hellen Haut sieht.
Mr Hamilton räuspert sich.
"Guten Morgen, liebe Schüler."
Er wartet gar nicht auf das langgezogene und gelangweilte "Guten Morgen, Mr Hamilton" von unserer Seite, sondern redet sofort weiter:
"Wie ihr seht, habt ihr eine neue Mitschülerin. Sie heißt Maya und kommt aus Deutschland.
Maya, würdest du dich uns bitte kurz vorstellen?"
"Na ja, eigentlich haben Sie bereits alles Wichtige über mich gesagt:
Ich heiße Maya und komme aus Deutschland."
Sie grinst Mr Hamilton frech an,
einige Schüler kichern leise.
Mr Hamilton räuspert sich erneut, ihm scheint die ganze Situation ein wenig unangenehm zu sein.
"Kannst du uns vielleicht noch ein bisschen mehr sagen?
Wo genau aus Deutschland du kommst, oder was du gerne machst, zum Beispiel?"
"Nö", erwidert Maya und verschränkt die Arme vor der Brust.
"Warum sollte ich?"
Auf Mr Hamiltons Stirn bilden sich Zornesfalten, die immer dann dort auftauchen, wenn er kurz vor einem Wutausbruch steht.
Doch er scheint sich zusammen-zureißen, denn mit gepresster Stimme sagt er lediglich:
"In der letzten Reihe ist noch ein Platz frei. Setz dich neben September,
wir beginnen mit dem Unterricht."
DU LIEST GERADE
September [ beendet ]
Teen FictionAus Kenia nach Amerika adoptiert, fühlt sich die 15-jährige September zunächst gar nicht wohl in ihrem neuen Zuhause: Außer ihrer Schwester kennt sie niemanden, zudem wird sie wegen ihrer Hautfarbe gehänselt. Weiteres Kopfzerbrechen bereitet ihr Leo...