2. Kapitel: Will, der Fußball und ich

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Ich setze mich zu meiner Schwester auf die Rückbank. "Hi", sagt sie.
Ich antworte nicht, denn in diesem Moment entdecke ich Leo, der zusammen mit anderen Schülern in den Schulbus steigt. Ich beobachte ihn einen Moment und wundere mich immer noch über das, was heute im Hallway passiert ist, da stößt Mia mir kichernd ihren Ellbogen in die Seite.
"Na, hast du schon einen neuen Schwarm? Ist Will etwa schon vergessen?"
Sie scheint meinem Blick gefolgt zu sein und ich werde feuerrot, als ich verstehe, dass sie Leo meint.
Immerhin hat sie es in Swahili gesagt, unserer Muttersprache, die wir zuhause in Kenia sprachen. 
"Nein", antworte ich heftig, ebenfalls in Swahili, doch vielleicht war mein Tonfall ein bisschen zu heftig, denn Harry dreht sich um und schaut mich mahnend an.
"Tschuldigung", murmele ich verlegen.
Harry und Judith, unsere Adoptiveltern, wollen nämlich, dass wir Englisch sprechen, sodass wir es schneller lernen und uns daran gewöhnen.
"Wir sind nunmal in Amerika, und  niemand spricht hier Swahili", sagt Judith, wenn wir uns auf der Stammessprache unterhalten.

Die Carters, bei denen meine Schwester und ich nun seit rund zwei Monaten leben, sind sehr nett. Sie haben selbst keine Kinder, weswegen sie sich sehr gefreut haben, als wir zu ihnen kamen. Mia und ich haben uns nicht gefreut, was aber an den Umständen, und nicht an dem Ehepaar lag.
Nun leben wir hier in Calamite Hills, Arizona, das ganz anders ist als unser beschauliches Dörfchen in Kenia.
Glücklicherweise lernten meine Schwester und ich in der wenigen Zeit, in der wir dort zur Schule gehen durften, Englisch.
Doch perfekt ist es natürlich nicht und ich muss oft nachfragen, denn bei der Geschwindigkeit und dem starken Akzent der Amerikaner verstehe ich manchmal nichteinmal Bahnhof.

Ich bin sauer, dass Mia gerade ausgerechnet Will erwähnen musste. William, der Nachbarsjunge in unserem Heimatdorf Kijiji nuru, was so viel bedeutet wie "Dorf des Lichts", war mein bester Freund. Und nur, weil wir viel Zeit miteinander verbrachten, manchmal ganze Tage, an denen wir zusammen Fußball spielten oder durch die Steppe streiften, zog Mia mich stets damit auf, wir wären verliebt. Aber das stimmte nicht. Ich mochte ihn sehr gerne und nach meiner Familie war er der Wichtigste in meinem Leben, aber es war Freundschaft, keine Liebe.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er mir das Fußballspielen beibrachte.
Ich war sieben Jahre alt und in der Regenzeit durften wir Kinder manchmal zur Schule gehen. Nach dem Unterricht blieben Will und seine Freunde oft auf dem Fußballplatz neben dem Schulgebäude. Ich hätte so gerne mitgespielt, aber die Jungen lachten mich nur aus und sagten, Mädchen könnten ja gar kein Fußball spielen.
Ich war enttäuscht, blieb aber hartnäckig sitzen, um zu zeigen, dass ich mich so leicht nicht unterkriegen lassen würde. Die Jungs zuckten nur mit den Schultern und ließen mich zuschauen.
Ich beobachtete sie ganz genau, von den Tricks und Finten bis zum Torschuss.
Anfangs lachte Will noch mit den anderen mit, doch immer wenn wir danach zusammen durch die Hitze nach Hause liefen, war er sehr schweigsam und ich spürte, dass er sich schämte.

Irgendwann, als wir wie jeden Tag Seite an Seite barfuß den staubigen Weg bis zu unseren Hütten entlangliefen, fasste er sich schließlich ein Herz.
Ich hatte schon gemerkt, dass er den ganzen Weg über etwas nachgedacht hatte und dass er hin- und hergerissen war. Ich kannte ihn eben sehr gut.
Auf einmal stieß er hervor:
"Möchtest du, dass ich es dir beibringe?"
Ich sah ihn zunächst verständnislos an, da ich keinen blassen Schimmer hatte, was er meinte.
"Was beibringen?", fragte ich nach.
"Na, das Fußballspielen."
Jetzt war es raus.
Ich blieb stehen und starrte ihn unverwandt an.
"Meinst du das ernst?"
Gekränkt sah er mich an.
"Denkst du, ich würde dich reinlegen?"
"Nein", sagte ich schnell, konnte es aber dennoch nicht fassen.
"Aber - was ist mit den anderen, mit Akono und Tulani und Berhane?
Werden sie dich nicht auslachen?"
"Nicht, wenn wir ihnen erstmal nichts sagen. Du kannst ja immer noch jeden Tag am Spielfeldrand sitzen und beleidigt zugucken, insgeheim lernst du aber alles von mir.
Also natürlich nur, wenn du möchtest. Und irgendwann, wenn du die Super-Torjägerin bist, kommst du aufs Feld gerannt und überraschst sie!"
Er grinste, als würde das der größte Spaß seines Lebens werden.
Und ich, ich war überglücklich.
"Aber natürlich würde ich das gerne!
Und da fragst du noch?
Hast du einen Ball zuhause? Und wollen wir gleich anfangen?", rief ich eifrig.
"Klar!", antwortete Will und wir rannten so schnell nach Hause wie noch nie zuvor.

September [ beendet ]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt