Das Wochenende verläuft ruhig.
Ich habe relativ viel für die Schule zu tun, weshalb ich die meiste Zeit mit Hausaufgaben und Lernen beschäftigt bin.
Die einzige Pause wird mir am Samstagnachmittag gegönnt, als ich zum ersten Mal in die Musikschule zum Trommelunterricht gehe.
Mr O'Malley, ein rundlicher, lebensfroher Mann, ist total aus dem Häuschen, als ich erzähle, dass ich aus Afrika komme und dass im Dorf regelmäßig getrommelt wurde.
"Ein Mädchen aus dem Land des Trommelns, oh, dass ich das noch erleben darf! Ich bin so froh, dich kennenzulernen, September.
Kann ich dir überhaupt noch etwas beibringen?"
Oh ja, das kann er.
Klar trommele ich, seit ich groß genug bin, um das Fell zu erreichen.
Mit meinem Rhythmusgefühl war es allerdings schon immer nicht weit her, und so fangen wir nun damit an.
Viertel, Achtel, Sechzehntel,
halbe Noten, ganze Noten und so weiter, bisher war mir das alles fremd.
Insgeheim fragte ich mich am Anfang, wofür man das alles überhaupt braucht, im Dorf hatten wir es auch immer so hinbekommen.
Doch natürlich geht es geordneter zu, wenn die Noten vorgegeben werden.Ich bekomme eine kleine Hausaufgabe, da ich schon vor Ort entscheide, mit dem Trommeln weiterzumachen.
Judith macht den Samstag nun als festen Termin für mich aus, und dann begebe ich mich wieder in die Flut der Schularbeit.Beim Abendessen beschließe ich im Stillen, das Thema "Judo" anzusprechen.
Judith erzählt von der Einladung zum Geburtstag einer Freundin, zu der, wie sie betont, "die ganze Familie" eingeladen ist.
Ich warte einen Moment, dann setze ich zu einer wenig überlegten Bitte an,
doch überraschenderweise scheint Harry auch gerade daran gedacht zu haben, denn er wendet sich mir zu und fragt, noch bevor ich ein Wort sagen kann:
"Na, September, hast du es dir mit dem Sport nocheinmal überlegt?"
"Ähm, na ja, ich habe schon darüber nachgedacht, und, weil ... weil ein Freund mich gefragt hat", Mia kichert,
"wollte ich gerne mal mit ihm ins Judo gehen", sage ich etwas trotziger, als Mia mich immer noch grinsend ansieht.
Kurz sagt keiner etwas, dann lehnt sich meine Schwester zu mir herüber und flüstert gut hörbar auf Englisch:
"Uuuuuh, Leo hat dich gefragt, ob du mit ihm ins Judo gehen willst?"
"Nein, nicht er", sage ich wütend.
"Das würde mir ja grade noch fehlen!
Und ja, ins Judo, was ist daran falsch?"
"Keine Ahnung", antwortet sie schulterzuckend und nun wieder in normaler Lautstärke.
"Und das mit Leo ist also schon vorbei?"
Neugierig sieht sie mich an.
"Das hat gar nicht angefangen", erwidere ich laut.
"Er ist ein Idiot!"
Mia nickt gespielt verständnisvoll, während unsere Adoptiveltern einen Blick austauschen.
"Ja ja, schon verstanden", sagt meine Schwester sarkastisch.
"Leo ist von heute auf morgen ein Blödmann geworden und ich soll ihn nie wieder erwähnen.
Schon kapiert."
Mittlerweile brennen meine Wangen, und Mia, die dies als Einzige zu bemerken scheint, schaut mich vielsagend an.
Doch anscheinend merkt sie auch, dass ich kurz vor einem Wutausbruch stehe, weshalb sie nichts mehr sagt."Na ja, wenn du wirklich Lust dazu hast..."
Judith klingt wenig überzeugt und ich kann mir gut vorstellen, was ihr gerade durch den Kopf geht:
'Judo. Ein Kampfsport. Warum möchte sie ausgerechnet einen Kampfsport betreiben?'
Als sie erneut den Mund öffnet, rechne ich schon damit, dass sie das oder etwas Ähnliches fragen möchte, doch sie will nur wissen:
"Wer ist denn dein ... Freund?"
"Er ist EIN Freund!", stelle ich mit einem warnenden Seitenblick in Richtung Mia klar.
"Connor Weltinghouse."
Ob ihr das jetzt hilft?
"Ah!" Über das Gesicht meiner Adoptivmutter huscht ein wissendes Lächeln.
"Netter Junge", meint Harry grinsend.
Mein Blick fliegt zwischen den beiden hin und her.
"Ihr kennt Connor?", frage ich erstaunt. "Ja", bestätigt Harry. "Sein Vater war ein Arbeitskollege von mir." Sein Gesicht wird ernster.
"War?", frage ich vorsichtig.
"Ja, er wurde letztes Jahr gefeu- ... entlassen", sagt Judith traurig.
"Und seitdem ist er arbeitslos. Wir sind in Kontakt mir ihm und seiner Familie geblieben.
Es geht ihnen echt nicht gut, vor allem nach Amys Unfall."
"Ja. Connor macht sich immer noch Vorwürfe", sage ich leise.
"Er hat dir davon erzählt?", fragt Judith erstaunt.
"Dann scheint er dich wirklich sehr zu mögen. Connor ist zwar ein freundlicher und offener Mensch, doch von seiner Schwester erzählt er den Wenigsten."
Ich erwidere nichts, doch das kleine glückliche Lächeln huscht wieder über mein Gesicht.
Dann sage ich: "Ich mag ihn auch. Und ich würde wirklich gerne mal Judo ausprobieren. Ich habe zwar keine Ahnung, was man da macht, aber Connor meinte, es würde echt Spaß machen."
Harry lacht.
"Also von mir aus darfst du am Montag mal hingehen. Starke Mädchen gefallen mir."
Er zwinkert mir zu, dann schaut er seine Frau an. Und auch Judith scheint überzeugt zu sein.
"Ich rufe vorher mal den Lehrer an, um zu fragen, ob das in Ordnung ist und ob du etwas Bestimmtes mitnehmen sollst."
Glücklich springe ich auf und umarme die beiden.
"Danke schön!", sage ich strahlend.
Connor wird sich sicher genauso sehr freuen wie ich, wenn er es erfährt!
"Na, gerne", sagt Judith, offensichtlich überrascht über meine stürmische Umarmung.
Im nächsten Moment fällt mir auch auf, warum:
Das war unsere erste Umarmung.
Bei der Ankunft in Amerika habe ich ihnen lediglich die Hand gegeben, die einzige Berührung bis jetzt.
Ich bin auf Abstand geblieben, habe mich verschlossen gehalten und war abweisend.
Ich bereue das.
In diesem Moment fange ich an, es wirklich zu bereuen.
Die zwei haben uns schließlich nichts getan, im Gegenteil, sie haben uns aufgenommen und Mia und mir damit die Chance auf einen Neuanfang und auf eine bessere Perspektive für die Zukunft gegeben.
Sie haben uns freundlich empfangen, waren immer nett und kümmern sich sehr gut um uns.
Ich sollte ihnen dankbar dafür sein.
Sie können nichts für all den Schmerz, den wir aufgrund unserer Familie erleiden müssen,
sie wollen versuchen, ihn zu lindern.
Wir sollten ihnen wirklich dankbar sein.
Ich schaue auf und in die glänzenden Augen von Judith.
Von meiner Mutter.
Nein, von meiner zweiten Mutter.
Sie wird Jua Makoye nie vollständig ersetzen können.
Aber sie kann ihre Rolle einnehmen, jetzt, da meine leibliche Mutter es nicht mehr kann.
"Danke!", wiederhole ich und meine damit so viel mehr als nur das Judotraining.
Ich hoffe, sie hat es verstanden.
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September [ beendet ]
Teen FictionAus Kenia nach Amerika adoptiert, fühlt sich die 15-jährige September zunächst gar nicht wohl in ihrem neuen Zuhause: Außer ihrer Schwester kennt sie niemanden, zudem wird sie wegen ihrer Hautfarbe gehänselt. Weiteres Kopfzerbrechen bereitet ihr Leo...