Im Kunstsaal setzt sich Maya ganz selbstverständlich neben mich in die letzte Reihe.
"Und, was macht ihr gerade so in Kunst?", fragt sie gut gelaunt.
"Ähm, Schattierung und perspektivisches Zeichnen, glaube ich."
Unsere Lehrerin Mrs Ludmill betritt den Raum.
Sie ist pummelig und absolut liebenswürdig, trägt stets sehr verrückte Klamotten und ist ein bisschen schusselig.
Einmal kam sie mit Lockenwicklern in den Haaren in den Unterricht, da sie vergessen hatte, diese wieder herauszunehmen.
Heute flattert sie in einer quietschgelben Bluse und einem altmodischen Rock mit Blümchenmuster zur Tür herein.
"Hallo, meine Lieben!", flötet sie.
"Ihr dürft direkt eure begonnenen Zeichnungen aus dem Schrank holen und weitermachen.
Oh, ein Neuzugang", sagt sie dann mit Blick auf Maya.
"Einen Moment, Liebes, bin gleich bei dir. Ich muss nur noch schnell meine Brille finden."
Die Brille (ein außergewöhnliches Exemplar mit Leopardenflecken darauf) sitzt zwar auf ihrem Kopf, doch keiner wagt es, sie darauf anzusprechen. Stattdessen kichern die Leute verhalten, widmen sich aber sofort ihren Arbeiten.
Maya sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Die ist ein bisschen ... crazy, oder?
Und sag mal, ihre Brille hat sie doch auf dem Kopf, oder?"
"Ja", bestätige ich und muss mir ein Grinsen verkneifen.
"Aber sie ist total lieb."
"Und ihre Brille?", fragt Maya zweifelnd.
"Will niemand sie darauf ansprechen?"
"Nö. Früher oder später fällt es ihr sowieso ein. Und es ist einfach lustig, ihr beim Suchen zuzugucken."
Das stimmt.
Wie ein übergroßer, aufgescheuchter Kanarienvogel wuselt Mrs Ludmill durch den Kunstraum, wird aber ständig von der Suche abgelenkt.
"Das sieht schon sehr gut aus, Jo." -
"Na, Hannah, hier an dieser Stelle musst du noch ein bisschen schattieren."
Bei mehreren Schülern bleibt sie stehen und lobt die Arbeit oder gibt Verbesserungsvorschläge.
Als sie bei Jayden ankommt, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen.
"Jayden! Das sieht ja aus als hätte deine kleine Schwester das Bild für dich gemalt. Nur ein paar Umrisse, von Schattierung ganz zu schweigen.
Was hast du denn die ganze Zeit gema...
Huch, da ist ja meine Brille!"
Sie zieht sie nun richtig auf.
"Ich wusste doch, dass ich sie nicht abgesetzt habe", murmelt sie vor sich hin und setzt sogleich ihre Standpauke fort.
Der arme Jayden wird auf seinem Stuhl immer kleiner.
Also erkläre ich Maya, dass wir uns irgendeinen beliebigen Gegenstand aussuchen und ihn mit Hintergrund, Schattierungen und aus der richtigen Perspektive zeichnen sollen.
Ich bin mit der groben Arbeit noch nicht fertig, weshalb ich mich auf dem Schulhof vor die große Weide stelle, die ich zeichnen möchte.
Mir ist klar, dass das nicht das einfachste Motiv ist, aber mir gefiel der Baum so gut, dass ich ihn einfach zeichnen musste.Als ich gegen Ende der Kunststunde wieder an meinem Platz damit beschäftigt bin, den langen Schatten, den der Baum wirft, richtig darzustellen, höre ich plötzlich ein "Wow!" von hinter mir.
Ich drehe mich um und sehe Maya, die mit offenem Mund meine Zeichnung anstarrt.
Verdutzt schaue ich mein Bild an, dann wieder Maya.
"Was ist denn?", frage ich verwundert.
Einen Moment sagt Maya gar nichts, dann sprudelt sie los:
"Mensch September! Dieses Bild ... das ist ... der Hammer, der absolute Hammer! Wie kannst du das?
Das sieht echt ... total realistisch aus, wie ein Foto!
September, wenn die Ludmill das sieht, die wird ausflippen!"
Verlegen senke ich den Blick.
So viel Lob bin ich nicht gewohnt.
"Danke", murmele ich.
"Nee, im Ernst", sagt Maya, "wie bringst du das fertig? Wie geht das?"
"Naturtalent?", antworte ich achselzuckend.
"Dann hat der liebe Gott aber sehr sehr viel Zeichentalent bei dir gelassen."
Und ich habe das Jahre meines Lebens nicht gewusst.Bei der Erinnerung daran muss ich beinahe lächeln. Doch ich kann es mir im letzten Moment noch verkneifen.
Dann kommen die Wörter wie von selbst aus meinem Mund heraus, ohne dass ich anfangs überhaupt entschieden hatte, sie auszusprechen.
"Bis zu meinem zwölften Lebensjahr wusste ich auch gar nicht davon", beginne ich leise.
"In Kijiji nuru, also da, wo ich herkomme, hatten wir in der Schule nicht oft Papier.
Es war kostbar und man bekam nur selten ein Blatt.
Nicht so wie hier, wo wir sogar die Hausaufgaben auf Papier notieren.
Jedenfalls habe ich oft mit einem kleinen Stock auf dem Boden vor unserem Haus oder vor der Schule gezeichnet. Aber natürlich klappte das nur bedingt gut und ich war oft unzufrieden, weil man das, was ich darstellen wollte, gar nicht erkannt hat.
So ein Stock ist ziemlich unpräzise.
Jedenfalls hat Darou, unser Lehrer, mich irgendwann mal aufgefordert, auf einem Blatt Papier zu zeichnen."
Mittlerweile sitzt Maya wieder auf dem Stuhl neben mir und hört gebannt zu.
"Ich versuchte, ihn zu zeichnen und kriegte das ziemlich gut hin.
Alle sagten, dass ich ein Talent wäre und so durfte ich öfters auf einem meist schon zur Hälfte beschriebenen Blatt zeichnen.
Und es machte mir ziemlich viel Spaß."
"Hast du denn noch Zeichnungen aus
Ki... aus deinem Dorf halt?"
Ja, habe ich. Aber das will ich ihr nicht sagen, also schüttele ich den Kopf.
Es ist nämlich eine Zeichnung meiner Mutter. Ich habe sie zwar in die hinterste Ecke meines großen Schrankes verbannt, damit ich das Bild nicht sehen muss, aber es in Kenia zu lassen, hatte ich nicht übers Herz gebracht.
Doch es jeden Tag anzugucken, hätte die letzten Reste meines ohnehin schon angeknacksten Herzens zum Zerbrechen gebracht.
Ich kann es nicht.
Das ist der Nachteil an meiner Zeichenkunst: Die Werke sehen aus wie Fotos.
Und ein Foto meiner nun toten Mutter im Zimmer würde ich nicht ertragen."Wie heißt das Dorf nochmal, wo du herkommst?", wechselt Maya das Thema.
"Kijiji nuru", erwidere ich, und allein beim Aussprechen dieses wunderschönen Namens durchflutet mich eine Welle an Erinnerungen.
"Das ist Swahili, meine Muttersprache, die man in Kenia spricht;
und es heißt übersetzt in etwa 'Dorf des Lichts'."
"Du bist dort geboren, richtig?", will sie wissen und ich nicke.
"Seit wann bist du denn hier?", fragt sie weiter und ich erzähle ihr, dass ich seit
Februar hier bin und dass ich in Kenia Englischunterricht erhielt.
"Aber wir hatten nicht so oft Schule", ergänze ich, "denn in der Erntezeit mussten wir auf den Feldern helfen."
Maya schaut mich geschockt an.
"Das ist ja so, wie man es immer hört", sagt sie betroffen.
"Dass die Kinder in Afrika nur selten oder gar nicht zur Schule gehen dürfen."
"Und wir hatten noch Glück", stelle ich klar. "Irgendeiner Spendenaktion in Europa haben wir zu verdanken, dass es überhaupt ein Schulgebäude und die nötigen Materialien gibt."
Andächtig nickt Maya.
"Solche Menschen braucht die Welt", murmelt sie und es hört sich sehr weise an.
"Und warum seid ihr nun hier, du und deine Familie?"
Ich und meine Familie. Oder was davon eben übrig ist.
Ich zögere.
Ich will kein Mitleid. Zumindest im Moment nicht.
Aber - soll ich es ihr sagen?
Bin ich schon soweit, dass ich ihr das anvertrauen kann?Mrs Ludmill nimmt mir die Entscheidung ab.
"So, meine Lieben, räumt eure Sachen auf, dann dürft ihr gehen!"
Schnell wende ich mich ab, räume meinen Zeichenblock zu den anderen und packe meine Schultasche.
Als ich das Zimmer verlasse, werfe ich ein "Ciao Maya" über meine Schulter.
Ob sie es hört, weiß ich nicht.
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September [ beendet ]
Teen FictionAus Kenia nach Amerika adoptiert, fühlt sich die 15-jährige September zunächst gar nicht wohl in ihrem neuen Zuhause: Außer ihrer Schwester kennt sie niemanden, zudem wird sie wegen ihrer Hautfarbe gehänselt. Weiteres Kopfzerbrechen bereitet ihr Leo...