Kapitel 6

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In der letzten Stunde hatte ich Geschichte. Ich ging ins Klassenzimmer und gab meinen Anmeldungszettel für den Kurs beim Lehrer ab. Er hieß Mr Wales. „Ach, ja Luna. Setz dich am besten an den leeren Platz hinten.", sagte er. Ich nickte.

Ich scannte kurz das Klassenzimmer ab nach dem Platz den er gemeint hatte. Vorne saßen Kira und Lydia die mir aufmunternd zulächelten. Als ich meinen neuen Nebensitzer sah, wusste ich dann auch warum: Es war Theo Raeken.

Ich seufzte kaum hörbar und ging nach hinten. Theo saß lässig in seinem Stuhl, und schaute ernst. Doch er sah mich nicht an, er sah provokant nach vorne.

Ich setzte mich hin und packte Mäppchen und Block aus. „So sieht man sich wieder.", sagte Theo und sah mich nun an. Ich sagte nichts darauf.

Mr Wales begann über die Geschichte Europas zu reden und ich versuchte mich zu konzentrieren, doch irgendwie gelang es mir nicht. Meine Gedanken drifteten ab. Zu den Schreckensdoktoren. Zu Theos Labor. Ich blickte zu Theo und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel.

Er war eine dieser Chimären. Halb Mensch halb Werwolf.

„...in Europa zur dieser Zeit war, Luna?", sagte der Lehrer plötzlich. Was war die Frage gewesen? Scheiße. „Österreich-Ungarn.", sagte Theo so leise, das es nur ich hören konnte.

Nun sahen mich alle an, da ich nicht antwortete. Ich schluckte. „Österreich-Ungarn...?", sagte ich unsicher. „Genau.", sagte Mr Wales und unterrichtete weiter. Ich biss mir auf die Unterlippe und sah zu Theo. Der grinste schadenfroh und sah nach vorne.

Was war eigentlich sein Problem?! Er machte mich wütend. „Ihr werdet bitte mit eurem Nebensitzer ein Projekt vorbereiten, das die Hälfte eurer Gesamtbote ausmacht.", Verkündete dann der Lehrer.

Ich weitete die Augen. Alle freuten sich und schlugen mit ihrem Nebensitzer ein. „Ja, aber da ihr mit euren Freunden machen dürft, will ich dafür gute Ergebnisse sehen.", sagte er.

Ich sah zu Theo. Der sah mich auch ausdruckslos an. Was für ein Freund? Nun meldete sich Theo. Bei der Bewegung erreichte mich sein Geruch. Er roch nach Aftershave und einem Parfüm.

„Ja, Mister Raeken?", fragte der Lehrer. „Machen wir das Projekt in der Stunde oder außerhalb des Unterrichtes?", fragte Theo. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, doch es wurde nicht erhört. „Außerhalb. Da ihr es nächste Woche schon abgeben müsst bleibt euch nichts anderes übrig als Freistunden zu nutzen euch in der Schule und daheim zu treffen.", sagte Mister Wales.

Na klasse.

Als es zum Ende der Stunde klingelte packte ich meine Sachen zusammen und ging raus. Draußen vor der Türe fing mich Theo ab. „Also, wann hast du Zeit?"

Ich sah ihn fragend an. „Das Projekt.", erklärte er. „Achso...", meinte ich und zuckte die Schultern. An meinem Schließfach angekommen packte ich meine Bücher rein.

„Mir egal.", sagte ich. Theo sah kurz an mir vorbei. Sicherlich standen Lydia und Kira dort, die Theo giftige Blicke zuwarfen. „Wie wäre es mit Freitagnachmittag?", fragte er und es schien ihm sichtlich zu gefallen, dass ich mich jetzt auf ihn einlassen musste. „Okey.", sagte ich. „Wo?"

Was war nur los? Ich war eine Seraphim. Ich durfte nicht so schrecklich unhöflich sein. Auch wenn ich jemanden nicht mochte. „Geht es bei dir?", Fragte ich nach.

„Klar.", Sagte Theo. „Ich kann dich dann mitnehmen nach der Schule." Das klang so falsch mit seinem Labor und dem gefangenen Werwolf im Hinterkopf. „Okay...", murmelte ich und hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache.

„Dann bis morgen."; Sagte Theo, schwang seinen Rucksack über die Schulter und ging davon. „Tschau."

An diesem Abend lag ich wach im Bett. Ich spürte, dass irgendwas nicht stimmte. Als ich meine Augen schloss sah ich Stiles vor mir, der von einem Jungen angegriffen wurde, der ein Vendigo war. Ich schrak auf und bekam Panik.

Schnell wählte ich Stiles Nummer. Niemand ging ran.

Ohne weiter nachzudenken zog ich mich um, zog mir ein schwarzes Cape über meine Kleidung und ging los. Scott war nicht da. Ich musste allein los. So schnell ich konnte verwandelte ich mich in eine Schwalbe. Die waren blitzschnell.

Mein Weg führte mich zur Schule, wo ich mich zurückverwandelte und in das Schulhaus ging. „Stiles?!", rief ich. Keine Antwort.

Ich ging die Treppe hoch, irgendwas sagte mir, dass ich in die Bibliothek gehen sollte. Dort angekommen traute ich meinen Augen nicht: alles war verwüstet wie nach einem schrecklichen Kampf auf Leben und Tod.

In der Mitte des Raumes war ein Vendigo. Aufgespießt auf eine Metallstange. Er schwebte dort wie ein Tieropfer. „Oh Gott...", wimmerte ich und ging hin.

Ihm lief das Blut aus dem Mund, es tropfte auf den Boden. Doch wo war Stiles?! Ich hatte diesen Jungen in meiner Vision mit Stiles kämpfen sehen! Hatte Stiles das getan? Es musste Selbstverteidigung gewesen sein.

Plötzlich hörte ich im Flur draußen jemanden kommen. Ich drehte mich um und sah etwas leuchtendes, feuriges, den Raum betreten.

Es war Parrish. „Parrish?", fragte ich verwirrt. Er war der Höllenhund. Er würde die Leiche mitnehmen. Parrish kam aber erst auf mich zu und hob mir seine Hand hin. Ich wusste nicht was er wollte, doch ich legte meine Hand in seine.

Die Flammen, die an ihnen züngelten verbrannten mich nicht, sondern ein blauer Schein bildete sich um meine Hand herum. Plötzlich wurde meine Sicht verschwommen und ich fühlte mich als würde ich nur noch Zuschauer in meinem eigenen Körper sein.

Ich fühlte mich wie in einem Traum. Mich umgab ein blauer Schein und ich konnte alles von oben sehen. Doch ich hatte keine Kontrolle über mich. Ich sah, dass ich Parrish den Körper von Donnovan gab. Woher ich den Namen kannte, wusste ich nicht mal. Doch als ich ihn berührte, sprang mir der Name in den Kopf. Meine Augen leuchteten grün-blau und ich folgte dem von Flammen umschlungenen Parrish, dessen Augen golden leuchteten.

Aber warum tat ich das?! Und warum konnte ich nicht eingreifen? Ich wollte schreien, mich bewegen, die Kontrolle über meinen Körper zurück. Doch nichts gelang.

Plötzlich wurde alles schwarz.


With ears to see & eyes to hear (J.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt