2. Kapitel - Das sind die Wilden Kerle

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Und so kam es, dass ich zwei Wochen später im Münchner Flughafen, in Terminal 2, nach Papa suchte. Okay, ich stand da und versuchte herauszufinden, wo ich zum Ausgang gelangen würde, als mich zum Glück Papa in der Menschenmenge im Ankunftsbereich des Flughafens fand.
Als ich ihn sah, fiel ich ihm um den Hals und spürte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. 'Nein, du heulst jetzt nicht wieder rum!', befahl ich mir streng in Gedanken. Doch es nützte nichts, die Tränen kamen trotzdem. Und Papa nahm mich einfach fest in den Arm und sagte nur: „Ich habe dich vermisst!" Jetzt kamen die Tränen erst recht. Unaufhörlich bahnten sie sich den Weg zu meinem Kinn. „Alles wird gut, Mal! Ich bin ja da.", meinte Papa. Er und Mama waren schon immer die einzigen, die diesen Spitznamen verwendeten. Er konnte ja nicht wissen, wie sehr ich ihn inzwischen hasste, seit ihn auch einmal meine farmor, also meine Oma verwendet hat. „Määäl", hat sie mich mal eine Zeit lang gerufen, wenn sie wütend, sauer, oder beides war. Seitdem bin ich von diesem Spitznamen traumatisiert. Und natürlich auch deshalb, weil er mich so an Mom erinnerte.  Aber ich versuchte, mich zusammen zu reißen und erklärte Papa, dass ich lieber Tess genannt werden will. Er sah mich erst verwundert an, nickte dann aber.
Nachdem wir noch eine Weile einfach so da standen in der Umarmung, gingen wir schließlich zu seiner Limousine. Im Auto fragte ich ihn dann nach meinem Zwilling Markus. Ich erfuhr daraufhin, dass mein Lieblingsbruder Teil einer Fußballmannschaft namens 'Die Wilden Kerle' war, und eigentlich seine gesamte Zeit bei ihnen verbrachte. Und auch, das mein Vater nicht gerade angetan von Fußball war. Na das konnte ja was werden. Ich liebte Fußball nämlich beinahe über alles.
Andererseits, wenn Markus lieber zu seiner Mannschaft geht, als seine Zwillingsschwester, die er seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat, abzuholen, wird er vermutlich auch sonst nicht viel Zeit mit mir verbringen. Was ich echt nicht cool fände. Ich kannte schließlich nur ihn. Das konnte ja noch lustig werden. Als wäre der unfreiwillige Umzug nicht schon genug!
Zuhause angekommen machte ich mich daran, meine Koffer aus dem Auto zu hieven, als Markus plötzlich hinter mir stand und fragte, ob er mir helfen könnte. Ich drehte mich um, und fiel auch ihm erstmal um den Hals. Zum einen, weil ich ihn echt vermisst hatte, und auch, weil ich schon wieder einen Kloß im Hals spürte. Verdammt, war das nervig! So standen wir ebenfalls erstmal einfach da und umarmten uns - wenn auch nicht besonderslange. Trotzdem rekordverdächtig, für unsere Verhältnisse.
Schließlich fragte er mich, ob er mir mit den Koffern helfen könne. Ich bejahte, und so machten wir uns gemeinsam daran, die schweren Koffer ins Haus zu schleppen.
In meinem Zimmer angekommen fielen wir auf mein Bett. Wir hatten uns ja so viel zu erzählen! Und Markus fing auch direkt damit an, mich mit Fragen zu durchlöchern. Also holte ich tief Luft, um ihm im gleichen Tempo mit Antworten zu bombardieren, was schwierig werden würde.
„Also, erstens, ja, ich kann noch deutsch. Ich habe in letzter Zeit viel geübt. Zweitens, mir tut es auch leid, dass wir uns in den vergangenen drei Jahren nicht gesehen haben. Und ja, natürlich spiele ich noch Fußball, was denkst du denn?"
Daraufhin war er erstmal sprachlos, und ich nutzte die Gelegenheit, um meine Sachen auszupacken. Danach gingen wir runter, da Papa mit dem Abendessen wartete.
An diesem Tag unterhielten wir uns noch viel, und ich bekam langsam wieder das Gefühl, bei meiner Familie zu sein. Das machte den Schmerz der letzten Zeit um einiges ertragbarer.

Am nächsten Morgen wurde ich unsanft von einem Klingeln geweckt. „Satans jävla helvete!¹", fluchte ich auf Schwedisch und quälte mich aus dem Bett. Ich wollte nicht unbedingt an meinem ersten Schultag hier in Grünwald zu spät kommen. Ja, ihr habt richtig gelesen: zwei Tage vor den Sommerferien schickte mein lieber Vater mich noch in die Schule! In Schweden hatten wir sogar schon Ferien! Doch laut Papa war das perfekt zum Eingewöhnen. Pah, das ich nicht lache!
Aber es hilft ja alles nichts, also ging ich ins Bad und zog mich an. Ich entschied mich für meine Lieblingskombination: Schwarzes Top, schwarzer Zipfelrock mit mehreren Stofflagen, schwarze Netzstumpfhose und schwarze, einfache Sneaker. Gothic rocks! Für meine Lederjacke war es leider zu warm, sehr schade.
Ich schnappte mir noch meine Umhängetasche, auch in der Farbe schwarz versteht sich, und lief nach unten.
Im Flur wurde ich bereits von einem fröhlichen Markus erwartet, welcher mir mit einem Grinsen mein Brötchen in die Hand drückte, da ich trotz allem sehr spät dran war. „Warum, fan, bist du so gut gelaunt?", murrte ich daraufhin. „Fan?" Er schaute mich fragend an. „Ja, Schwedisch für 'Teufel', oder auch 'zur Hölle' ", erklärte ich ihm. Da war mir wohl mal wieder was rausgerutscht, ups. „Ach so. Na ja, es ist der vorletzte Schultag, wer ist da bitte nicht gut gelaunt?" „Derjenige, der eigentlich bereits Ferien hat!", erklärte ich ihm mürrische.
Wir schwangen uns auf unsere Fahrräder und fuhren los Richtung Schule. Ich fand es wirklich lieb von Papa und Markus, dass sie mir bereits ein Fahrrad besorgt hatten. Ich fuhr nämlich, typisch schwedisch, sehr gerne Fahrrad. Und wie ich gestern Abend bereits festgestellt hatte, tickten mein Zwilling und ich trotz Trennung noch sehr ähnlich, was unser Verhältnis deutlich vereinfachen würde. Das spürte ich irgendwie. Auf jeden Fall hatten sie mit dem Fahrrad genau meinen Geschmack getroffen. Die Farbe könnt ihr euch ja denken. Schwarz, richtig!
An einer Kreuzung trafen wir uns dann mit zwei anderen Jungen, die anscheinend ebenfalls bei den „Wilden Kerlen" Fußball spielten. Nachdem Markus mich als seine bessere Hälfte mit dem Namen Tess vorgestellt hatte, erfuhr ich, dass die zwei Jungen Brüder waren. Der Ältere stellte sich mir als Juli, und der kleinere als Joschka vor.
Nun zu viert radelten wir den Rest der Strecke. Vor der Schule trafen wir uns dann mit noch mehr Jungs, aber diesmal war auch ein Mädchen dabei. Markus stellte mich erneut als seine Zwillingsschwester vor und verwendete, zu meiner Freude, erneut den Namen Tess. Kein Maleficent, kein Mal.
Verwundert wurde ich gemustert, was mir gar nicht gefiel. Doch dann stellten sie sich endlich vor.
Das heißt, einer von ihnen stellte mir die anderen und sich selbst vor: „Ich bin Leon, der Slalomdribbler und Anführer der Wilden Kerle, und das ist meine Mannschaft: Juli 'Huckleberry' 'Fort Knox', die Viererkette in einer Person, kennst du ja bereits und seinen kleinen Bruder Joschka, die siebte Kavallerie, auch. Das hier ist mein Bruder Marlon", er deutete auf einen älter wirkenden Jungen mit orange Haaren, „Er ist die Intuition. Das ist Maxi 'Tipkick' Maximilian, der Mann mit dem härtestem Schuss auf der Welt.", diesmal deutete er auf einen Jungen mit braunen, halblangen Haaren, „Das ist Deniz, die Lokomotive,", jetzt meinte er den Jungen, der irgendwie türkisch, oder aserbaidschanisch oder so, aussah, „Und das sind Vanessa, die Unerschrockene und Raban, der Held", beendete dieser Leon das Ganze und zeigte nacheinander auf ein Mädchen mit dunkelblondem Haare und einen Jungen mit rotem Haar und  einer Brille mit ziemliche dicken Brillengläsern. „Und welchen Beinamen hast du?", fragte ich Markus zwar interessiert, aber auch leicht belustigt. „Der Unbezwingbare", antwortete mir mein Bruder mit einem Grinsen. Unbezwingbar also, ah ja.

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Schwedisch für…
¹ „Satans teuflische Hölle!“

Tess und der Beginn ihres wilden Lebens  (DWK FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt